Jeder kann mal Robin sein
riß das Fenster auf. »Max, komm sofort zurück!«
Aber so schnell gab der nicht auf, es dauerte eine ganze Weile, bis er völlig außer Atem in der offenen Tür stand.
Oma packte ihn bei den Schultern. »Und Lilly? War sie im Auto?«
»Nein.« Max keuchte.
»Bist du sicher?«
»Klar! Hab doch die ganze Zeit auf der Straße gelauert.«
Oma ließ ihn los. »Das soll einer verstehen. Aber komm rein, es zieht.« Oma ging auf dem Flur hin und her. »Dann muß das Kind noch in der Wohnung sein«, sagte sie. »Dabei sah es doch ganz nach einer allgemeinen Abreise aus.«
Max nickte. »Was sollen wir jetzt machen, Oma?«
Oma hob die Schultern. »Abwarten und Tee trinken, bis ich jemanden vom Jugendamt erwische. Und du zieh mal dein Taschentuch, hast ’ne ganz rote Laufnase. Und das sag ich dir, mit Spähen ist jetzt Schluß.«
»Aber Judy hat gesagt...«
»Die kann viel sagen. Jetzt bist du hier zu Hause dringend gefragt. Jeden Augenblick kann das Telefon läuten. Vorhin hat Mama aus New York angerufen, und ich mußte einhängen, alles wegen dieser Dresslers.«
»Was? Mama? Und du hast eingehängt?« stammelte Max. »Und ich muß ihr so dringend was sagen.«
»Kannst du, kannst du, sie ruft bestimmt gleich wieder an. Na, was hab ich gesagt? Das Telefon.« Oma drehte sich um, aber Max war schon an ihr vorbeigeflitzt und nahm eilig den Hörer ab.
»Ja? Ja, Mama!« Max’ Stimme rutschte immer höher. »Nein, wieso? Oma ist ganz gesund, wirklich, ja, ich auch, und Tine. Wir alle drei. Bloß die Lilly von nebenan ist in der Rosenburg gefangen. Und wir mußten heute den ganzen Tag schleichen. Oma hinten und ich vorn, aber es hat nichts genützt. Wie? Ja, Oma ist da. Soll ich sie dir geben? Ja, klar, bloß, ich wollte dir noch sagen ...«
Oma nahm Max den Hörer aus der Hand. »Wie? Nein, kein Grund zur Aufregung, wirklich! Im Moment geht es hier bloß ein bißchen drunter und drüber. Nein, nein, nicht bei uns. Ich erkläre dir alles, wenn ihr wieder zu Hause seid. Warte, Max zupft mich wie verrückt am Ärmel. Er will dir noch was sagen. Tschüs, Gisela, wir sehen uns ja bald.« Oma drückte Max den Hörer in die Hand.
»Mama«, stammelte Max. »Mama, ich wollte ... Mama, bald ist Weihnachten, und ich ... wollte dir sagen...«
Im Hörer klickte es, aus. Max machte ein unglückliches Gesicht. »Weg, sie ist weg.«
Oma nahm ihn in den Arm. »Sie kommt bald. Und Tine und ich, wir sind ja da.«
Max bohrte den Kopf in Omas Bauch. »Du bist Oma. Und Mama - Mama ist Mama.«
»Da hast du auch wieder recht.« Oma strich sich eine Strähne aus der Stirn. »Kinder, Kinder, was für eine Aufregung.« Sie griff erneut zum Hörer.
Max wich nicht von ihrer Seite.
»Rufst du jetzt Frau Beck an?«
»Ja.«
Als Oma den Hörer einhängte, fragte Max: »Kommt sie?«
»Ja, morgen.«
»Dann ist Lilly ja ganz allein, nicht?«
»Scheint so. Aber genau weiß man ja nicht, ob sie überhaupt da ist. Vielleicht hat Tine sich getäuscht gestern, und Lilly war gar nicht am Fenster.« Oma stieß einen Seufzer aus. »Hilft alles nichts. Ich muß mich jetzt ums Mittagessen kümmern.«
Während Oma am Herd hantierte, saß Max auf der Küchenbank und verzehrte eine rohe Karotte. Er sah, wie Oma immer wieder nach der Küchenuhr schaute. Endlich klingelte es.
»Tine!« Max lief seiner Schwester entgegen, kam aber nicht dazu, seine Neuigkeit loszuwerden.
»Ich weiß, ich weiß!« Tine schleuderte ihren Ranzen in die Ecke. »Der rote Wagen ist weg.«
»Gar nichts weißt du!« schrie Max. »Sie sind alle weg. Der Mann mit dem Bart und die Frau.«
»Woher willst du das wissen?«
»Weil sie Koffer in das Auto gebracht haben.«
»Und Lilly?«
»Das ist es ja!« Oma war auf den Flur getreten. »Wahrscheinlich ist sie noch in der Wohnung. Wenn sie nicht doch bei der Tante ist. Aber Frau Beck bezweifelt das ja auch.«
»Was?«
»Ja, Max hat genau aufgepaßt. Das Kind ist nicht mit ins Auto gestiegen.«
»Hast du Frau Beck Bescheid gesagt?«
»Natürlich. Ihre Sekretärin hat gesagt, sie sei auf einer Tagung. Aber morgen kommt sie.«
Tine überlegte. »Ob ich nebenan mal klingle? Vielleicht macht Lilly mir jetzt auf.«
»Kannst es ja mal versuchen, obwohl...«
Tine war schon aus der Tür. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Nachbarwohnung, horchte einen Augenblick, drückte auf den Klingelknopf. Nichts rührte sich. Aber so schnell gab Tine nicht auf. Sie preßte den Kopf an die Tür. »Lilly«, rief sie, und noch einmal:
Weitere Kostenlose Bücher