Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jeder stirbt für sich allein

Jeder stirbt für sich allein

Titel: Jeder stirbt für sich allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Fallada
Vom Netzwerk:
denkt an das Gesicht des Kindes, das sie geboren, und beide Gesichter gehen ineinander über, und sie weiß, daß sie alles verloren hat auf dieser Welt, Kind und Mann, daß sie niemals wird lieben, nie wird Kinder gebären dürfen, und alles dies, weil sie für einen alten Mann eine Postkarte auf ein Fensterbrett gelegt hat, daß darum ihr ganzes Leben zerbrochen ist und das von Karli dazu, und daß es nie wieder Sonne und Glück und Sommer für sie geben wird, und keine Blumen ...
    Blumen auf mein Grab, Blumen auf dein Grab ...
    Und bei dem ungeheuren Schmerz, der sich immer weiter in ihr ausbreitet, der sie durchkältet wie Eis, schließt sie die Augen wieder und will zurück in Nacht und Vergessen. Aber die Nacht ist draußen, sie bleibt dort, sie dringt nicht in sie ein, aber plötzlich durchströmt Hitze sie
    ... Sie springt mit einem Schrei vom Bett auf und will fort, nur laufen, diesem gräßlichen Schmerz entlaufen.
    Aber eine Hand faßt nach ihr ...
    Es wird hell, und wieder ist es der Pastor, der bei ihr gesessen hat, der sie nun festhält. Ja, es ist eine fremde Zelle, es ist Karlis Zelle, aber sie haben ihn schon fortgebracht, und der Mann, der hier mit Karli in der Zelle lag, ist auch fort.
    «Wo ist er hingebracht?» fragt sie atemlos, als sei sie einen weiten Weg gelaufen.
    «Ich werde an seinem Grab meine Gebete sprechen.»
    «Was helfen ihm jetzt noch Ihre Gebete? Hätten Sie um sein Leben gebetet, als noch Zeit dafür war!»
    «Er hat den Frieden, Kind!»
    «Ich will hier fort!» sagt Trudel fieberhaft. «Bitte, lassen Sie mich zurück in meine Zelle, Herr Pastor! Ich habe dort ein Bild von ihm, ich muß es sehen, jetzt gleich. Er sah so anders aus.»
    Und während sie so spricht, weiß sie sehr wohl, daß sie den guten Pastor belügt und daß sie ihn betrügen will.
    Denn sie besitzt kein Bild von Karli, und sie will nie in ih-re Zelle zu der Frau Hänsel zurück.
    Und flüchtig schießt es ihr durch den Kopf: Ich bin ja wahnsinnig, aber jetzt muß ich mich gut verstellen, daß er es nicht merkt ... Nur fünf Minuten noch meinen Wahnsinn verstecken!
    Der Pastor führt sie sorglich an seinem Arm aus der Zelle über viele Gänge und Treppen in das Frauengefängnis zurück, und aus vielen Zellen hört sie tiefes Atmen -
    die schlafen - und aus andern rastlose Schritte - sie sorgen sich - und wieder aus andern Weinen - die tragen Leid, aber niemand trägt soviel Leid wie sie.
    Aber als der Pastor eine Tür auf-und hinter ihr wieder abgeschlossen hat, nimmt sie seinen Arm nicht wieder, und schweigend gehen die beiden weiter durch den nächtlichen Gang mit den Dunkelarrestzellen, aus denen der betrunkene Arzt gegen sein Versprechen die beiden Kranken nicht erlöst hat, und nun steigen sie viele Treppen im Frauengefängnis hinan bis zur Station V, wo die Trudel liegt.
    Dort auf dem obersten Gang schlurft ihnen ein Wärterin entgegen und sagt: «Jetzt, nachts um elf Uhr vierzig bringen Sie erst die Hergesell zurück, Herr Pastor? Wo waren Sie denn so lange mit ihr?»
    «Sie war viele Stunden ohnmächtig. Ihr Mann ist gestorben, wissen Sie.»
    «So - und da haben Sie die junge Frau also getröstet, Herr Pastor? Sehr hübsch. Die Frau Hänsel hat mir er-zählt, sie soll Ihnen ganz schamlos immer gleich um den Hals fallen. Da muß solch nächtliches Trösten besonders hübsch sein! Ich werde das ins Wachtbuch schreiben!»
    Aber ehe der Pastor sich noch mit einem Wort gegen diese Schmutzerei hat zur Wehr setzen können, sehen sie beide, daß Frau Trudel, verwitwete Hergesell, über das Eisengitter des Ganges geklettert ist. Einen Augenblick steht sie da, hält sich noch mit einer Hand am Geländer fest, mit dem Rücken zu ihnen.
    Und sie rufen: «Halt! Nein! Bitte nicht!»
    Und sie stürzen zu ihr hin, die Hände greifen schon nach ihr.
    Aber wie eine Schwimmerin, die einen Kopfsprung
    machen will, hat sich die Trudel Hergesell schon in die Tiefe gestürzt. Sie hören ein Flattern und Sausen, ein dumpfes Aufschlagen.
    Und dann ist alles totenstill, während sie die bleichen Gesichter über das Geländer neigen und doch nichts sehen.
    Dann machen sie einen Schritt zur Treppe hin.
    Und in demselben Augenblick bricht die Hölle los.
    Es ist, als sei's durch die eisenbeschlagenen Zellentüren zu sehen gewesen, was geschehen ist. Erst ist es vielleicht nur ein hysterischer Schrei gewesen, aber er lief weiter von Zelle zu Zelle und von Station zu Station, von der einen Gangseite zur andern, über den Abgrund

Weitere Kostenlose Bücher