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Jeder stirbt für sich allein

Jeder stirbt für sich allein

Titel: Jeder stirbt für sich allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Fallada
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fort.
    Und während er weiterlief, wurde aus dem einen Schrei ein Brüllen, Heulen, Zetern, Keifen, Toben.
    «Ihr Mörder! Ihr habt sie umgebracht! Bringt uns doch gleich alle um, ihr Henker!»
    Und es gab welche, die hingen sich an die Fenster und schrien es auf die Höfe, so daß auch die Männerflügel aus ihrem angstdünnen Schlaf erwachten, und es tobte, es schrie, es geiferte, es plärrte, es grunzte, es verzweifelte.
    Es klagte an, es klagte an mit tausend, mit zweitausend,
    mit dreitausend Stimmen, schrie das Tier seine Anklage aus tausend, zweitausend, dreitausend Mäulern.
    Und die Alarmglocke schrillte, und sie trommelten mit den Fäusten gegen die Eisentüren, mit den Schemeln rannten sie dagegen an. Die Eisenbetten fielen knallend in ihren Scharnieren und wurden wieder hochgerissen und knallten neu. Scheppernd fuhren die Eßschüsseln auf dem Boden herum, die Kübeldeckel lärmten, und das ganze Haus, dieses Riesengefängnis stank plötzlich wie eine verhundertfachte Latrine.
    Und die Bereitschaften fuhren in ihre Kleider und griffen nach ihren Gummiknütteln.
    Und Zellentüren wurden aufgeschlossen: Knackknack!
    Und der klatschend dumpfe Laut von Gummiknütteln auf die Schädel hernieder wurde laut und das Gebrüll Wütender, vermischt mit dem Gescharr kämpfender Füße, und die hohen, tierhaften Schreie der Epileptiker und das Juhu-Gejodel idiotischer Spaßmacher und die gellenden Ludenpfiffe ...
    Und Wasser klatschte in die Gesichter der eindringen-den Aufseher.
    Und in der Leichenkammer lag Karli Hergesell ganz still mit einem kindhaft kleinen, friedlichen Gesicht.
    Und all das war eine wilde, panische, grausige Symphonie, gespielt zu Ehren Trudels, verwitweter Hergesell, geborener Baumann.
    Aber sie lag unten, halb auf dem Linoleum, halb auf dem schmutziggrauen Zementboden der unteren Station I.
    Sie lag da ganz still, ihre kleine graue Hand, die noch soviel Mädchenhaftes hatte, war leicht geöffnet. Ihre Lippen waren von ein wenig Blut gefärbt, ihre Augen sahen blicklos in eine unbekannte Gegend.
    Aber ihre Ohren schienen auf den tosenden, auf-und abschwellenden Höllenlärm zu lauschen, und ihre Stirn war gefaltet, als grüble sie darüber nach ob dieses wohl der Friede sei, den ihr der gute Pastor Lorenz versprochen.
    In Verfolg aber dieses Selbstmordes wurde der Gefängnisgeistliche Friedrich Lorenz von seinem Amte suspendiert, und nicht der versoffene Arzt. Ein Verfahren wurde gegen den Geistlichen eröffnet. Denn es ist ein Verbrechen und die Begünstigung eines Verbrechens, wenn einem Gefangenen gestattet wird, selbst sein Lebensende zu bestimmen: dazu sind allein der Staat und seine Diener berechtigt.
    Wenn ein Kriminalbeamter einen Mann mit seinem Pistolenkolben so verletzt, daß er sterbenskrank wird, und wenn ein betrunkener Arzt den Verletzten sterben läßt, so ist das alles in Ordnung. Aber wenn ein Geistlicher einen Selbstmord nicht verhindert, wenn er einem Gefangenen, der keinen eigenen Willen mehr haben darf, den eigenen Willen läßt, so hat er ein Verbrechen begangen und muß dafür büßen.
    Leider entzog sich Pastor Friedrich Lorenz - genau wie diese Hergesell - der Sühne seines Verbrechens, indem er an einem Blutsturz starb, gerade in dem Augenblick, als er verhaftet werden sollte. Es war nämlich auch der Verdacht aufgetaucht, daß er unsittliche Beziehungen zu seinen Be-treuten unterhielt. Er aber hatte den Frieden, wie er selber gesagt hätte, ihm blieb viel erspart.
    Aber so kam es, daß Frau Anna Quangel bis zur Hauptverhandlung nichts von dem Tode von Trudel und Karl Hergesell erfuhr, denn der Nachfolger des guten Pastors war zu ängstlich oder unwillig, Botengänge unter den Gefangenen zu übernehmen. Er beschränkte sich strikte auf die Seelsorge, da, wo sie gewünscht wurde.
    60
    Die Hauptverhandlung: ein Wiedersehen Auch bei dem raffiniertest ausgeklügelten System können Fehler vorkommen. Der Volksgerichtshof zu Berlin, ein Gerichtshof, der nichts mit dem Volke zu tun hatte und zu dem das Volk nicht einmal als stummer Zuschauer zugelassen war, denn seine meisten Sitzungen waren geheim
    - dieser Volksgerichtshof war so ein raffiniert ausgeklügeltes System: ehe der Angeklagte noch den Verhandlungssaal betreten hatte, war er praktisch schon verurteilt, und nichts schien es zu geben, das dafür sprach, daß ein Angeklagter in diesem Saale etwas Erfreuliches erleben könnte.
    An diesem Morgen stand nur eine kleine Sache an: gegen Otto und Anna Quangel wegen

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