Jeder stirbt für sich allein
Landes-und Hochverrats. Der Zuhörerraum war kaum zu einem Viertel ge-füllt: ein paar Parteiuniformen, einige Juristen, die aus unerforschlichen Gründen dieser Verhandlung beizuwohnen wünschten, und in der Hauptsache Studenten der Jurisprudenz, die lernen wollten, wie die Justiz Menschen aus der Welt schafft, deren Verbrechen darin bestand, ihr Vaterland mehr geliebt zu haben, als es die verurteilenden Richter taten. Alle diese Leute hatten nur durch «Beziehungen» Eintrittskarten bekommen. Woher der kleine Mann mit dem weißen Spitzbärtchen und den von klugen Fältchen umgebenen Augen, woher der Kammergerichtsrat a. D. Fromm seine Karte bezogen hatte, bleibt unbekannt. Er saß jedenfalls unauffällig zwischen den andern, in einem kleinen Abstand von ihnen, das Gesicht gesenkt und häufig seine goldgefaßte Brille putzend.
Um fünf Minuten vor zehn Uhr wurde Otto Quangel von einem Schupo in den Gerichtssaal geführt. Man hatte ihm die Kleider angezogen, die er bei seiner Verhaftung in der Werkstatt getragen hatte, ein sauberes, aber vielfach geflicktes Alltagsgewand, bei dem die dunkelblauen Flik-ken sehr lebhaft von dem verwaschenen Blau der Grundfarbe abstachen. Sein immer noch scharfes Auge glitt gleichgültig von den noch leeren Plätzen hinter der Gerichtsschranke zu den Zuschauern hinüber, leuchtete einen Augenblick auf beim Anblick des Kammergerichtsrats
- und Quangel setzte sich auf die Bank der Angeklagten.
Kurz vor zehn Uhr wurde die zweite Angeklagte, Anna Quangel, von einem zweiten Schupo hereingeführt, und nun geschah eben jenes Versehen: kaum hatte Anna Quangel ihren Mann gesehen, so ging sie, ohne zu zögern, ohne die Menschen im Saal zu beachten, zu ihm hin und setzte sich neben ihn.
Otto Quangel flüsterte hinter der vorgehaltenen Hand: «Sprich nicht! Noch nicht!»
Aber ein Aufleuchten in seinem Auge sagte ihr, wie erfreut er über dieses Wiedersehen war.
Es war natürlich nie und nirgends in der Geschäftsord-nung dieses erlauchten Hauses vorgesehen, daß zwei Angeklagte, die seit Monaten sorgfältig voneinander isoliert worden waren, eine Viertelstunde vor Beginn der Verhandlung sich zusammensetzen und gemütlich miteinander plaudern konnten. Aber sei es nun, daß die beiden Schupos zum ersten Male diesen Dienst versahen und ihre Vorschriften vergessen hatten, oder sei es, daß sie dieser Strafsache keine große Bedeutung beimaßen, oder sei es, daß ihnen die beiden einfachen, fast dürftig angezogenen ältlichen Leutlein ganz unwesentlich erschienen, genug, sie erhoben keinen Einwand gegen den von Frau Anna gewählten Sitzplatz und kümmerten sich auch in der folgenden Viertelstunde so gut wie gar nicht um die beiden Angeklagten. Vielmehr begannen sie ein aufregendes Gespräch über irgendwelche Dienstbezüge, eine ihnen vor-enthaltene Nachtzulage und unberechtigte hohe Lohn-steuerabzüge.
Auch im Zuschauerraum wurde - natürlich außer vom Kammergerichtsrat Fromm - von niemandem der Fehler bemerkt. Alle waren nachlässig und schlampig, niemand rügte diesen zum Nachteil des Dritten Reiches und zum Vorteil zweier Hochverräter begangenen Fehler. Ein Prozeß, der nur zwei Angeklagte aus dem Arbeiterstand
aufzuweisen hatte, konnte hier keinen großen Eindruck machen. Hier war man Monsterprozesse gewöhnt, mit dreißig, vierzig Angeklagten, die sich meist gar nicht kannten, die aber zu ihrer Überraschung im Verlauf des Prozesses erfuhren, daß sie alle miteinander verschworen gewesen waren, und die demgemäß auch verurteilt wurden.
So konnte Quangel, nach einigen Sekunden sorgfältigen Rundblickes, sagen: «Ich freue mich, Anna. Geht's dir gut?»
«Ja, Otto, jetzt geht's mir wieder gut.»
«Sie werden uns nicht lange beieinander sitzen lassen.
Aber wir wollen uns dieser Minuten freuen. Dir ist doch klar, was kommen wird?»
Sehr leise: «Ja, Otto.»
«Ja, das Todesurteil für uns beide, Anna. Es ist unausbleiblich.»
«Aber, Otto ...»
«Nein, Anna, kein Aber. Ich weiß, du hast den Versuch gemacht, alle Schuld auf dich zu nehmen ...»
«Sie werden eine Frau nicht so schwer verurteilen, und du kommst vielleicht mit dem Leben davon.»
«Nein, nicht. Du kannst nicht gut genug lügen. Du wirst nur die Verhandlung in die Länge ziehen. Laß uns die Wahrheit sagen, dann geht es schnell.»
«Aber, Otto ...»
«Nein, Anna, jetzt kein Aber. Denke nach. Laß uns nicht lügen. Die reine Wahrheit ...»
«Aber, Otto ...»
«Anna, ich bitte dich!»
«Otto, ich möchte dich doch
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