Jeder stirbt für sich allein
Heffke benutzte die etwas vielseitigeren Möglichkeiten der Untersuchungshaft dazu, daß er sich erst einmal aufhängte.
Man fand ihn im allerletzten Augenblick, schnitt ihn ab und schenkte ihn einem Leben wieder, das ihm völlig unerträglich geworden war.
Von Stunde an mußte der kleine Buckel unter noch viel schwereren Bedingungen leben: in seiner Zelle brannte die ganze Nacht Licht, ein Sonderposten sah in Abständen von wenigen Minuten durch die Tür, seine Hände waren gefesselt, und er wurde fast täglich zu einem Verhör geholt. Wenn der Untersuchungsrichter in den Akten auch nichts Belastendes gegen Heffke gefunden hatte, so war er doch fest davon überzeugt, daß der Buckel ein Verbrechen verbarg, denn warum hätte er sonst einen Selbstmordversuch machen sollen? Kein Unschuldiger tat das! Die geradezu blödsinnige Art Heffkes, jeder Beschuldigung erst einmal zuzustimmen, bewirkte es, daß der Untersuchungsrichter zu den langwierigsten Vernehmungen und Ermittlungen schreiten mußte, die dann ergaben, daß Heffke nichts getan hatte.
So kam es, daß Ulrich Heffke erst eine Woche vor der Hauptverhandlung aus der Untersuchungshaft entlassen wurde. Er kehrte zu seiner langen, dunklen, müden Frau zurück, die schon längst freigekommen war. Sie empfing ihn schweigend. Heffke war zu verstört, um zur Arbeit gehen zu können; er kniete oft stundenlang in einem Zimmerwinkel und sang mit angenehmer, leiser Falsettstimme Kirchenlieder. Er sprach kaum noch, und nachts weinte er viel. Sie hatten Geld gespart, so tat die Frau nichts, den Mann zur Arbeit anzuspornen.
Drei Tage nach seiner Entlassung bekam Ulrich Heffke schon wieder eine Ladung als Zeuge zu der Hauptverhandlung. Sein schwacher Kopf konnte es so recht nicht mehr fassen, daß er nur als Zeuge geladen war. Seine Aufregung steigerte sich von Stunde zu Stunde, er aß fast nichts mehr und sang immer länger. Die Angst, die eben erst überstandenen Quälereien sollten schon wieder los-gehen, quälte ihn unendlich.
In der Nacht vor der Hauptverhandlung hängte er sich zum zweiten Male auf, diesmal rettete ihm sein dunkles Weib das Leben. Sobald er wieder atmen konnte, prügelte sie ihn gründlich durch. Sie mißbilligte seine Lebensweise.
Am nächsten Tage nahm sie ihn fest unter den Arm und lieferte ihn an der Tür des Zeugenzimmers dem Gerichtsdiener mit den Worten ab: «Der hat einen Vogel! Auf den müssen Sie gut aufpassen!»
Da das Zeugenzimmer schon gut besetzt war, als diese Worte fielen - es waren in der Hauptsache Arbeitskameraden von Quangel geladen, die Fabrikleitung, die beiden Frauen und der Postsekretär, die ihn beim Ablegen der Karten beobachtet hatten -, da also schon eine ganze Reihe von Zeugen anwesend war, als Anna Heffke diese Worte sagte, so paßte nicht nur der Gerichtsdiener, sondern die ganze Zeugenschaft eifrig auf den kleinen Mann auf. Manche versuchten, sich die langweilige Wartezeit mit Neckereien des Buckels zu verkürzen, aber es wurde nicht viel damit: dem Manne sah zu sehr die Angst aus den Augen. Die Leute waren doch zu gutmütig, ihm viel zuzusetzen.
Die Vernehmung durch den Präsidenten Feisler hatte der Buckel trotz seiner Angst gut überstanden, einfach, weil er so leise sprach und so sehr zitterte, daß es dem höchsten Richter in Bälde langweilig wurde, sich diesen Angsthasen länger vorzunehmen. Dann hatte der Buckel sich unter die
andern Zeugen geduckt, in der Hoffnung, alles sei nun für ihn abgetan.
Aber dann hatte er mit ansehen müssen, wie der Ankläger Pinscher sich seine Schwester vornahm, wie er sie quälte; er hörte die schamlosen Fragen, die Anna gestellt wurden. Sein Herz empörte sich, er wollte vortreten, er wollte für die heißgeliebte Schwester reden, er wollte bezeugen, daß sie immer ein anständiges Leben geführt hatte - und seine Furcht ließ ihn wieder sich niederducken, sich verkriechen, feige sein.
So verfolgte er, zwischen Angst und Feigheit und Mutanwandlungen nicht mehr Herr seiner Sinne, den Fortgang der Verhandlung, bis er zu jenem Moment kam, da Anna Quangel den BDM, die SA und die SS beschimpfte.
Er erlebte den Tumult, der folgte, er machte selbst für seine eigene kleine, lächerliche Figur ein bißchen Tumult mit, indem er auf die Bank kletterte, um besser sehen zu können. Er sah, wie zwei Schupos Anna aus dem Saal schleppten.
Er stand noch immer auf der Bank, als der Präsident endlich Ruhe zu schaffen begann im Saal. Seine Nachbarn hatten ihn vergessen, sie steckten noch
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