Jedes Kind ist hoch begabt: Die angeborenen Talente unserer Kinder und was wir aus ihnen machen (German Edition)
bietet es an. Es kostet nichts. Im Gegenteil. Wer seine Kinder damit beschenkt, bekommt sogar etwas zurück: Nähe, Vertrauen und ein Strahlen in den Augen des Kindes. In einer Kultur, die von Effizienzdenken geprägt ist, fällt es allerdings nicht leicht, den Blick auf diese scheinbar nutzlosen Beschäftigungen zu richten, die Kindern helfen, die in ihnen angelegten Begabungen optimal zu entfalten. Diese unbezahlbaren Zaubermittel sind gemeinsames Singen, gemeinsam erlebte Märchenstunden, gemeinsames Spielen, gemeinsames Tanzen, Musizieren, Malen oder Basteln. Zum Glück ist die Erklärung dieses Phänomens ganz einfach: Im gemeinsamen Tun erleben Kinder etwas, was sie nicht erleben, wenn sie unterrichtet werden und wir ihnen mit den besten Absichten und den ausgefeiltesten didaktischen Verfahren etwas beizubringen versuchen. Sie erleben Glück in der Gemeinschaft, ein Gefühl, das sie aus der Gemeinschaft mit der Mutter, in der dunklen sicheren Höhle, schon kennen. Diese Erfüllung entsteht, weil in diesem gemeinsamen Tun ihr wichtigstes Bedürfnis gestillt wird: verbunden zu sein und in dieser Verbundenheit gleichzeitig zu wachsen. Um frei zu sein und autonom zu werden.
Märchenstunden etwa, das Erzählen von Geschichten, sind die höchste Form des Unterrichtens. Denn Lernen gelingt am besten, wenn die emotionalen Zentren im Gehirn aktiviert und all jene Botenstoffe freigesetzt werden, die das Knüpfen neuer Verbindungen zwischen den Nervenzellen fördern. Damit es richtig » im Bauch kitzelt«, ist die Atmosphäre wichtig. Man kann eine Kerze anzünden oder die Märchenstunde zu einem richtigen Ritual machen. Das hilft Kindern, zu entspannen und sich zu konzentrieren. In aller Ruhe werden so ziemlich komplizierte Erregungsmuster im Gehirn aufgebaut.
Der Inhalt sollte sorgfältig gewählt, die Geschichte aufregend sein und doch dem Kind keine übermäßige Angst machen. Aber wenn die Helden Gefahren bestehen, selbst ein wenig Furcht zeigen und am Ende doch das Böse bezwingen, ist das höchste Motivation und Ermutigung. Es ist nicht gleichgültig, wie eine Geschichte erzählt oder vorgelesen wird. Das Kind muss merken, dass der Erzähler oder die Erzählerin selbst ebenfalls begeistert und betroffen, bestürzt oder erschüttert ist. Und das Kind beim Lesen immer wieder anschaut. Dieser enge Kontakt und die Erfahrung, dass Vater oder Mutter mitfiebern, machen Märchen aus hirnbiologischer Sicht zum Besten, was wir unseren Kindern bieten können. Die Welt braucht Geschichten, und Kinder erst recht.
Eltern sollten Kindern die Märchen vorlesen, am besten sogar frei erzählen. Märchenstunden aus dem Rekorder oder im Fernsehen haben einen sehr viel geringeren Effekt. Es kann kein Austausch stattfinden; Apparate sind nicht in der Lage, Stimmungen einzufangen. Sie lassen Kinder mit ihren Gefühlen allein. Das Zaubermittel sind nicht die Märchen an sich, es ist der intensive Austausch über Gefühle, das Erleben von Nähe und Sicherheit.
Aber das ist noch nicht alles. Denn im Gehirn eines Erzählers oder Vorlesers werden alte Erinnerungen wach, nicht nur Erinnerungen an den genauen Inhalt der Geschichte, sondern vor allem Erinnerungen daran, wie es damals war, als sie selbst diese Märchen hörten. Dann ist das Gefühl von damals wieder da. Die Erfahrung einer intensiven Begegnung mit einem lieben Menschen. Man erinnert sich an das Schaudern und Kribbeln und eine beruhigende Stimme. An den Ort der Erinnerung, das Wohnzimmer, die Küche, das Sofa. All das taucht deutlich spürbar aus dem im Hirn abgespeicherten Erfahrungsschatz der frühen Kindheit auf. Weil Märchen solche frühen, emotional positiv bewerteten Erinnerungen wachrufen, machen sie auch uns Erwachsene auf eine geheimnisvolle Weise wieder stark. Man fühlt sich besser, gestärkt und zuversichtlich, mutiger und befreiter. Märchen sind also auch Balsam für die Seelen der Großen.
Alles, was die Fähigkeit von Kindern verbessert, zu sich und zu anderen eine gute Beziehung aufzubauen, ist die wichtigste » Entwicklungshilfe«, die wir unseren Kindern bieten können. Dazu gehört auch das Singen. Singen aktiviert emotionale Zentren und wird mit einem lustvollen, glücklichen, befreienden emotionalen Zustand verkoppelt. Singen, so sagt man, macht das Herz frei. Gemeinsames und lustvolles Singen führt darüber hinaus zu sozialen Resonanzphänomenen. Die Erfahrung von » sozialer Resonanz« ist eine der wichtigsten Ressourcen für die spätere
Weitere Kostenlose Bücher