Jedes Kind ist hoch begabt: Die angeborenen Talente unserer Kinder und was wir aus ihnen machen (German Edition)
bieten, in der es Gelegenheit bekommt, möglichst viele dieser in seinem Gehirn angelegten Vernetzungsoptionen zu stabilisieren. Das müsste eine Lebenswelt sein, in der es Freude daran hat, alles zu erkunden, zu entdecken, zu erforschen und zu lernen. Ein solches Kind würde seine angeborene Entdeckerfreude und Gestaltungslust, seine Offenheit und seine Beziehungsfähigkeit auch nicht verlieren. Sein Interesse an der Vielfalt sinnlicher Wahrnehmungen würde ebenso wenig verschwinden wie seine Lust am Leben und seine Fähigkeit zu lieben.
Damit Kinder all das nicht verlieren, brauchen sie das sichere Gefühl, so angenommen und gemocht zu werden, wie sie sind. Und mit all ihren Begabungen gesehen zu werden. Aus dieser neurobiologischen Perspektive kann das Erziehungsziel nur sein, Kinder dabei zu unterstützen, damit das Selbstverständliche geschieht: die Ausbildung vielfältiger Kompetenzen. Dazu kann man sie nur einladen, ermutigen und inspirieren. Und dazu brauchen Kinder eine liebevolle Führung. Eine Führung, die überall dort klare Grenzen zieht, wo das Kind Gefahr läuft, sich auf seinem Weg in eine selbstbestimmte Zukunft selbst zu behindern oder gar zu verlaufen.
Alles andere hat mit Erziehung nichts zu tun. Wer nach wie vor meint, Kinder mit Bestrafung und Belohnung dazu bringen zu müssen, sich so zu verhalten, wie er das möchte, erzieht nicht. Er richtet ab. Dressiert. Ein Kind erlebt diese Versuche als Verletzung seines tiefen Bedürfnisses nach Verbundenheit. Es macht die schmerzvolle Erfahrung, dass es so, wie es ist, nicht richtig ist, und dass es sich so verhalten muss, wie es seine » Erzieher« wünschen, damit es von ihnen wieder angenommen wird und dazugehören darf. Dressur, Bestrafung oder Belohnung bewirken, dass eine Leistung nicht als ein eigenes Werk, sondern als etwas von anderen Aufgezwungenes bewertet wird. Ein Kind erlebt sich so nicht als selbstbestimmtes Wesen, sondern als Objekt der elterlichen Erziehungsbemühungen. Es wird zurechtgestutzt, wie Gärtner einen Baum beschneiden, damit er möglichst viel » Ertrag« bringt.
Mit solch erzwungenen eigenen Leistungen wird sich kein Kind identifizieren können. Es wird sie deshalb ablehnen, auch wenn es in der Schule gute Noten vorweisen kann. Wer straft, verhindert also die Entfaltung von Begabungen. Auch eine Belohnung steigert nicht die Lust am Lernen und an der eigenen Leistung. Was damit erreicht wird, ist bestenfalls das Gegenteil. Das Kind, einmal belohnt, versucht immer mehr eine Leistung zu erreichen, die es eigentlich nicht erbringen möchte. Für die es sich nur der Belohnung wegen anstrengt. So entwickeln Kindern früh ein Verhandlungsgeschick: Was bekomme ich dafür, dass ich abtrockne? Was, wenn ich für die Schule lerne? Mit der Zeit steigern sie ihre Ansprüche, in diesem Wettbewerb gibt es nur Verlierer. Kinder werden so immer besser in der möglichst geschickten Beschaffung von Belohnungen. Im schlimmsten Fall werden sie abhängig von Belohnung. Wie ein Pferd, das sich auch nur im Kreis dreht, wenn man ein Stückchen Zucker bereithält.
Bis ins vorige Jahrhundert waren Abrichtung und Dressur als Erziehungsmethoden von Kindern durchaus die Regel. Damals kam es noch nicht so sehr darauf an, die heranwachsende Generation in die Lage zu versetzen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Damals ging es vor allem darum, dass jeder Einzelne in seiner Familie, in der Schule, im Dorf und bei der Arbeit möglichst gut und reibungslos funktionierte. Möglichst keine Fragen stellte, nicht » neugierig« war, sondern machte, was getan werden musste. Not, Angst, Armut und Bedrohung hielten Gemeinschaften zusammen, nur gemeinsam konnten sie überleben. Selbstbewusste und selbstständige Personen mit einer eigenen Meinung und eigenen Ideen wurden als unangepasste Störer betrachtet, die nicht dazu beitrugen, den bescheidenen Wohlstand zu sichern und die Gemeinschaft stabil zu halten.
Noch immer versuchen wir unsere Kinder auf diese Weise zu erziehen. Als wäre es möglich, kleine Kätzchen auf das Mäusefangen vorzubereiten, indem durch Lernprogramme zunächst das Stillsitzen und Beobachten, später das Zupacken und Festhalten und schließlich das Fressen einer Maus geübt wird. All das lernen die kleinen Kätzchen aber von allein. Allerdings nur dann, wenn man sie nicht stört oder ihnen die zum Erlernen und Einüben dieser Fähigkeiten erforderlichen Spielräume nimmt. Vor allem müssten die Jungen Gelegenheit bekommen, einer
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