Jedes Kind Kann Regeln Lernen
Mutter hat regelrecht Angst vor dem Abendritual. Sie ahnt, was auf sie zukommt. Das Vorlesen macht ihr keinen Spaß, denn sie weiß: Manuel kann sowieso nie genug kriegen. Ihre Zuwendung kommt nicht von Herzen. Das Übermaß an Aufmerksamkeit gibt sie ihrem Sohn nicht freiwillig, sondern nur, weil er sie dazu zwingt. Wenn Manuel sich ausnahmsweise einmal mit einer Geschichte zufrieden gibt und danach ruhig in seinem Bett bleibt, ist seine Mutter heilfroh, endlich einmal ihre Ruhe zu haben. Sie hütet sich davor, sein Zimmer noch einmal zu betreten . -> Kind lernt:
Aufmerksamkeit muß ich mir erkämpfen: Manuel merkt genau, daß seine Mutter abends ihre Zeit nicht gern mit ihm zusammen verbringt. Er denkt sich: "Anscheinend mag sie mich nicht so besonders. Aber ich will, daß sie sich mit mir beschäftigt! Ich weiß schon, wie ich das am besten schaffe: Wenn ich abends Theater mache, habe ich sie eine Stunde ganz für mich alleine!" -> Kind verhält sich auffällig: Manuel macht am nächsten Tag wieder Theater...
Nicht nur im Elternhaus kommt so ein Kreislauf häufig vor. Im Kindergarten oder in der Schule kann es ebenfalls passieren. Oft begibt sich das Kind sogar von einem Kreislauf in den nächsten - und hat sein Weltbild damit um so mehr verfestigt: "Ich kann und muß alle Erwachsenen dazu zwingen, daß sie sich um mich kümmern." - Diesmal soll eine Geschichte aus dem Kindergarten den Ablauf des Kreislaufs von Abb. l anschaulich machen.
Nina ist 4 Jahre alt. Sie hat ein besonders enges und inniges Verhältnis zu ihrer Mutter. Allerdings empfindet die Mutter Nina mitunter als anstrengend, weil sie auf Trennung häufig mit Tränen und tiefer Traurigkeit reagiert. Nina ist beliebt bei den anderen Kindern, denn sie hat viel Charme und tausend Ideen. Manchmal spielt sie den ganzen Tag draußen mit ihren Freunden. Sie lädt sich gern Spielkameraden ein, besucht ihrerseits aber niemanden ohne ihre geliebte Mama. Im ersten Kindergartenjahr klappte die Trennung von der Mutter nach einer wie erwartet schwierigen Anfangsphase ganz gut. Seit den Sommerferien, zu Beginn des zweiten Kindergartenjahres, benimmt sich Nina plötzlich sehr auffällig. Schon zu Hause fängt sie an, herzzerreißend zu weinen: "Muß ich wirklich in den Kindergarten?" Meist wird sie vom Vater gebracht, damit der Trennungsschmerz nicht ganz so groß ist. Im Kindergarten geht das "Theater" weiter. Kind verhält sich auffällig: -> Nina spielt nicht, sondern sie setzt sich in eine Ecke und weint herzzerreißend leise vor sich hin. Fragt man sie nach ihrem Kummer, lautet die Antwort: "Ich weiß auch nicht, warum ich so traurig bin!" -> Erzieherinnen reagieren mit Aufmerksamkeit: Irgendwann erbarmt sich eine Erzieherin, nimmt Nina auf den
Schoß, tröstet sie, bietet ihr ein Spiel an. Nach langer intensiver Zuwendung hört Nina auf zu weinen und beschäftigt sich eine Weile friedlich . -> Kind lernt: Auffälliges Verhalten wird belohnt: Nina denkt: Mit niemandem spielt die Erzieherin so viel wie mit mir. Meine Tränen scheinen sie sehr zu beeindrucken. -> Kind wiederholt auffälliges Verhalten: In diesem Kindergarten nehmen alle 25 Kinder ihr Frühstück gemeinsam ein. Es wird gewartet, bis alle Kinder fertig sind. Erst dann darf wieder gespielt werden. Nina haßt dieses langweilige Stillsitzen. Sie hat herausgefunden, wie sie es erheblich abkürzen kann: Regelmäßig beim Frühstück fängt sie wieder herzzerreißend an zu weinen. Trösten ist zwecklos. Oft darf Nina dann als Erste aufstehen und in einer Ecke allein spielen. Allerdings weint sie meist immer noch weiter. -> Erwachsene sind gereizt und reagieren zunehmend widerwillig mit Aufmerksamkeit: Wenn die Erzieherin sich nicht mehr zu helfen weiß, schickt sie Nina ins Büro der Leiterin. Die hat eigentlich viel zu tun und fühlt sich gestört. Weil sie schnell ihre Ruhe haben möchte, bietet sie Nina regelmäßig Bonbons an (die sie zu Hause ausschließlich samstags bekommt) und bringt sie dazu, daß sie in ihrem Büro - zunächst noch leise schluchzend - anfängt zu spielen. Hat sie sich beruhigt, wird Nina in die Gruppe zurück geschickt. -> Kind bekommt wenig spontane Zuwendung: Die Erzieherinnen sind immer froh, wenn Nina gerade nicht weint. Aufmerksamkeit bekommt sie nur, solange sie weint. Durch ihre Sonderrolle hat Nina recht wenig Kontakt zu den anderen Kindern. Allmählich hören die freundlichen Annäherungsversuche der anderen Kinder auf. Nina kommt zu dem Ergebnis: "Mit Kindern
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