Jeffery Deaver - Der Insektensammler1.doc
Unkraut wucherten auf der Brache, die sich vor der Hintertür erstreckte und voller Müll, alter Autoteile und ausrangierter Haushaltsgeräte lag. Dazwischen allerhand benützte Präservative. Harris Tomel fuhr mit seinem funkelnden Ford F-250 vor und stieß zurück. Ein bisschen auffällig, dachte Culbeau - wäre besser gewesen, wenn er von der anderen Seite gekommen wäre, aber niemand war auf der Straße, und da der Imbiss geschlossen hatte, kam wahrscheinlich auch keiner hier vorbei. Wenigstens war der Laster neu und der Auspuff in Ordnung, sodass er keinen Krach machte.
»Wer ist vorn im Büro?«, fragte O'Sarian.
»Nathan Groomer.«
»Ist die Bullenbraut bei ihm?«
»Weiß ich nicht. Woher, zum Teufel, soll ich das wissen? Aber wenn sie da ist, hat sie ihre Knarre und das Messer, mit dem sie dich gekitzelt hat, bestimmt im Schließfach verstaut.«
»Meinst du nicht, dass Nathan sie hört, wenn sie schreit?« Culbeau musste einmal mehr an die Augen des Rotschopfs und an die blitzende Messerklinge denken.
»Wahrscheinlich schreit eher der Junge als die«, sagte er.
»Na ja, und was dann?«
»Wir stülpen ihm schleunigst den Sack über den Kopf. Hier.« Culbeau reichte O'Sarian eine rotweiße Dose mit Pfefferspray.
»Ziel tief, weil er sich bestimmt duckt.«
»Bringt das was?... Ich meine, kriegen wir das nicht auch ab? Das Spray?«
»Nicht, wenn du's dir nicht selber ins Gesicht sprühst. Da kommt ein Strahl raus. Keine Wolke.«
»Wen von den beiden soll ich übernehmen?«
»Den Jungen.«
»Und wenn die Braut näher steht?«
»Die übernehm ich«, grummelte Culbeau.
»Aber -«
»Sie gehört mir.«
»Okay«, erwiderte O'Sarian. Sie zogen den Kopf ein, als sie an einem schmutzigen Fenster auf der Rückseite des Gefängnisses vorbeigingen, und hielten vor der eisernen Tür inne. Culbeau stellte fest, dass sie einen Spalt offen stand.
»Siehst du, sie ist nicht abgesperrt«, flüsterte er. Er hatte das Gefühl, dass er gegen O'Sarian gepunktet hatte. Fragte sich dann, warum er meinte, dass er so was überhaupt nötig hätte.
»Also, wenn ich nicke, gehen wir so schnell wie möglich rein und sprühen sie beide voll - und dass du mir ja nicht zu sparsam mit dem Zeug umgehst.« Er reichte O'Sarian einen Jutesack.
»Den ziehst du ihm dann über den Kopf.« O'Sarian hielt die Spraydose bereit, nickte zu dem zweiten Sack hin, den Culbeau mit einem Mal in der Hand hatte.
»Dann nehmen wir die Braut also auch mit?« Culbeau seufzte.
»Ja, Sean. Das machen wir«, sagte er genervt.
»Ach. Okay. Wollt ich bloß wissen.«
»Wenn wir sie im Sack haben, schleppen wir sie schleunigst raus. Lasst euch von nichts aufhalten.«
»Okay... Ach, was ich noch sagen wollte. Ich hab meinen Colt dabei.«
»Was?«
»Ich hab meinen Achtunddreißiger mitgenommen.« Er nickte zu seiner Hosentasche hin. Culbeau schwieg einen Moment lang.
»Gut«, sagte er dann. Entschlossen legte er die mächtige Pranke um den Türgriff.
... Zweiundzwanzig
Ist das der letzte Ausblick, der mir vergönnt ist?, fragte er sich. Von seinem Krankenbett aus konnte Rhyme einen Park sehen, der auf dem Gelände des Universitätsklinikums in Avery angelegt worden war. Üppig wuchernde Bäume, Gehwege, die sich durch den satten grünen Rasen wanden, ein steinerner Springbrunnen - eine Kopie, wie ihm eine Schwester erklärt hatte, einem berühmten Original nachempfunden, das auf dem Campus der University of North Carolina in Chapel Hill stand. Vom Schlafzimmer seines Stadthauses am Central Park West in Manhattan aus konnte Rhyme den Himmel und ein paar Gebäude an der Fifth Avenue sehen. Doch die Fenstersimse waren zu hoch über dem Boden, als dass er auf den Park schauen konnte, es sei denn, er ließ sich mitsamt seinem Bett direkt vor die Scheibe schieben. Dann konnte er auf das Gras und die Bäume hinabblicken. Hier hingegen waren die Fenster deutlich tiefer, vermutlich weil man bereits beim Bau der Anlage an die Bedürfnisse behinderter und gelähmter Patienten gedacht hatte. Den Siechen und Lahmen wird hier sogar freier Ausblick gewährt, dachte er spöttisch. Dann fragte er sich erneut, ob die Operation wohl erfolgreich verlaufen, ob er sie überhaupt überleben würde. Lincoln war sich bewusst, dass es die Kleinigkeiten waren, die ihn zur Verzweiflung trieben, einfachste Handgriffe, zu denen er nicht in der Lage war. Die Fahrt von New York nach North Carolina zum Beispiel war ein Unternehmen, auf das er sich seit langem vorbereitet hatte,
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