Jeffery Deaver - Der Insektensammler1.doc
ich beziehen da drüben am Ufer Stellung. Wenn irgendwas passiert, können wir sie ins Kreuzfeuer nehmen.« Vorsichtig, barfuß und mit bloßem Oberkörper lief Ned über die steinige Böschung zum schlammigen Ufer hinab. Argwöhnisch schaute er sich um wegen der Schlangen, vermutete Lucy - und ließ sich dann in die Fluten gleiten. Im Bruststil, den Kopf über Wasser, schwamm er so leise wie möglich auf das Boot zu. Lucy zog ihren Smith & Wesson. Spannte den Hahn. Warf einen Blick auf Jesse Corn, der beklommen auf ihre Waffe schaute. Trey stand neben einem Baum und hatte den Lauf der Schrotflinte in die Luft gerichtet. Er bemerkte ihren gespannten Revolver und lud die Remington durch. Das Boot war zehn Meter von ihnen entfernt, etwa in der Mitte des Flusses. Ned war ein guter Schwimmer und schloss rasch auf. Der Schuss war laut, und er fiel ganz in der Nähe. Lucy fuhr hoch, als etwa anderthalb Meter neben Ned das Wasser aufspritzte.
»O nein!«, rief sie und brachte ihre Waffe in Anschlag, hielt Ausschau nach dem Schützen.
»Wo, wo?«, schrie Trey und fasste die Schrotflinte fester. Ned tauchte unter. Ein weiterer Schuss. Wieder spritzte das Wasser auf. Trey senkte die Schrotflinte und nahm das Boot unter Beschuss. Ballerte wild drauf los. Die großkalibrige Waffe hatte keine Magazinsperre; sie war mit sieben Patronen geladen. In Sekundenschnelle hatte der Deputy alle abgefeuert, traf mit jedem Schuss das Boot, sodass Holzsplitter durch die Luft flogen und Wasserfontänen aufstiegen.
»Nein!«, schrie Jesse.
»Da sind Menschen drunter!«
»Woher kommen die Schüsse?«, rief Lucy.
»Unter dem Boot hervor? Von der anderen Seite? Ich kann's nicht erkennen. Wo sind die?«
»Wo is Ned?«, fragte Trey.
»Hat's ihn erwischt? Wo ist Ned?«
»Weiß ich nicht«, schrie Lucy mit überschnappender Stimme.
»Ich kann ihn nicht sehen.« Trey lud nach und legte erneut auf das Boot an.
»Nein!«, befahl Lucy.
»Nicht schießen. Gib mir Feuerschutz!« Sie rannte die Böschung hinab und watete ins Wasser. Plötzlich hörte sie jemand aufkeuchen, und dann tauchte Ned würgend und spuckend dicht am Ufer auf.
»Hilf mir!« Er war in heller Panik, schaute sich ständig um, während er aus dem Wasser krabbelte. Jesse und Trey richteten ihre Waffen auf das andere Ufer und stiegen langsam die Böschung hinab. Jesse blickte bestürzt auf das zersiebte Boot auf die schrecklichen, ausgezackten Löcher im Rumpf. Lucy steckte ihre Waffe ins Holster, watete zu Ned, packte ihn am Arm und zerrte ihn ans Ufer. Er war blass und schlapp, völlig ausgepumpt, weil er buchstäblich bis zum letzten Atemzug unter Wasser geblieben war.
»Wo sind sie?«, fragte er keuchend und hustend.
»Keine Ahnung«, sagte sie und zog ihn in ein Gebüsch. Er sank zu Boden, wälzte sich auf die Seite, spie und würgte. Sie musterte ihn genau. Er war nicht getroffen worden. Kurz darauf stießen Trey und Jesse zu ihnen, beide tief geduckt, den Blick auf die andere Seite des Flusses gerichtet, auf der Suche nach den Angreifern. Ned war immer noch am Würgen.
»Dreckwasser. Schmeckt wie Scheiße.« Das Boot, das mittlerweile halb untergetaucht war, trieb langsam auf sie zu.
»Sie sind tot«, flüsterte Jesse Corn, der wie gebannt darauf starrte.
»Ganz bestimmt.« Das Boot kam näher. Jesse nahm seinen Waffengurt ab und wollte zum Ufer laufen.
»Nein«, sagte Lucy, die Augen auf das andere Ufer gerichtet.
»Lass es zu uns kommen.«
... Neunundzwanzig
Das gekenterte Boot trieb auf eine entwurzelte Zeder zu, die in den Fluss hinaus ragte, und blieb daran hängen. Die Deputys warteten eine Weile. Der zerschossene Rumpf schaukelte in die Strömung, doch ansonsten rührte sich nichts. Das Wasser war rot gefärbt, doch Lucy konnte nicht erkennen, ob das Blut war oder nur der Glutschein der untergehenden Sonne, der sich dort spiegelte. Bleich und betroffen blickte Jesse zu Lucy, die ihm zunickte. Die drei anderen Deputys richteten ihre Waffen auf das Boot, als Jesse hinauswatete und es umdrehte. Die Überreste von etlichen zerfetzten Wasserflaschen tauchten auf und trieben langsam flussabwärts. Niemand war darunter.
»Was ist da passiert?«, fragte Jesse.
»Ich kapier's nicht.«
»Verflucht«, brummte Ned grimmig.
»Die haben uns aufgelauert. Das war ein hundsgemeiner Hinterhalt.« Lucy hätte nie geglaubt, dass ihre Wut noch heftiger, noch verzehrender werden könnte. Doch jetzt kochte sie regelrecht, stand wie unter Starkstrom. Ned hatte Recht. Amelia
Weitere Kostenlose Bücher