Jeffery Deaver - Der Insektensammler1.doc
hatte das Boot als Lockköder benutzt, so wie Nathan Groomer seine Holzenten, und ihnen vom anderen Ufer aus aufgelauert.
»Nein«, versetzte Jesse.
»So was würde sie nicht machen. Wenn sie geschossen hat, dann bloß, um uns zu erschrecken. Amelia kann mit Waffen umgehen. Sie hätte Ned getroffen, wenn sie gewollt hätte.«
»Verdammt noch mal, Jesse, wach endlich auf, ja?«, blaffte Lucy ihn an.
»Ein Schuss aus dem Hinterhalt, aus voller Deckung? So was geht immer mal daneben, egal, wie gut man schießen kann. Und auf dem Wasser? Ned hätte einen Querschläger abkriegen können. Oder er verliert die Nerven und schwimmt genau in die Schussbahn.« Dazu fiel Jesse Corn nichts mehr ein. Er rieb sich das Gesicht und starrte zum anderen Ufer.
»Okay, wir machen jetzt Folgendes.« Lucy sprach einen Ton tiefer als sonst.
»Es ist schon ziemlich spät. Wir rücken so weit vor, wie wir können, solange es noch halbwegs hell ist. Dann lassen wir uns von Jim Proviant und Campingausrüstung bringen. Wir schlagen hier draußen unser Lager auf. Außerdem gehen wir ab sofort davon aus, dass sie auf uns schießen, und dementsprechend verhalten wir uns. Los, überqueren wir die Brücke und suchen drüben ihre Spur. Sind alle Mann bereit?« Ned und Trey bestätigten. Jesse Corn starrte noch einen Moment auf das zerschossene Boot und nickte dann langsam.
»Dann mal los.« Die vier Deputys marschierten über die fünfzig Meter breite Brücke, auf der es nirgendwo Deckung gab - aber nicht gemeinsam. Sie hielten Abstand zueinander, damit allenfalls einer getroffen wurde, falls Amelia Sachs sie wieder unter Beschuss nehmen sollte, und die anderen das Feuer erwidern könnten. Trey hatte diese Taktik vorgeschlagen, weil er so was Ähnliches mal in einem Film über den Zweiten Weltkrieg gesehen hatte, und da er auf die Idee gekommen war, wollte er auch die Spitze übernehmen. Doch diese Position wolle Lucy unbedingt selbst haben.
»Du hättest ihn um ein Haar erwischt.«
»Niemals«, sagte Harris Tomel. Doch Culbeau ließ nicht locker.
»Erschreck sie, hab ich gesagt. Weißt du eigentlich, in was für einer Scheiße wir gesessen hätten, wenn du Ned getroffen hättest?«
»Ich weiß, was ich mache, Rich. Ein bisschen Hirn kannst du mir schon zutrauen, okay?« Verfluchter Streber, dachte Culbeau. Die drei Männer befanden sich am Nordufer des Paquo und marschierten auf einem Pfad am Fluss entlang. Genau genommen war Culbeau zwar stinksauer, weil Tomel zu knapp vorbei gezielt hatte, aber andererseits war er auch davon überzeugt, dass die Schüsse ihren Zweck erfüllt hatten. Lucy und die anderen Deputys waren jetzt garantiert aufgeschreckt wie eine Herde Schafe und rückten ab sofort schön langsam vor. Außerdem hatte die Schießerei noch etwas anderes bewirkt, was auch nicht schlecht war - Sean O'Sarian hatte Angst und hielt zur Abwechslung mal den Mund. Sie marschierten weiter.
»Weißt du, ob der Junge in die Richtung gegangen ist?«, fragte Tomel Culbeau zwanzig Minuten später.
»Ja.«
»Aber du hast keine Ahnung, wo er hinwill.«
»Selbstverständlich nicht«, sagte Culbeau.
»Sonst könnten wir ja gleich dorthin, nicht wahr?« Komm schon, Streber. Benutz deinen Grips.
»Aber -«
»Keine Sorge. Die finden wir schon.«
»Kann ich ein bisschen Wasser kriegen?«, fragte O'Sarian.
»Wasser? Du willst Wasser?«
»Ja, genau das will ich«, sagte O'Sarian selbstgefällig. Culbeau warf ihm einen argwöhnischen Blick zu und reichte ihm eine Flasche. Er hatte noch nie erlebt, dass der dürre Kerl etwas anderes soff als Bier, Whiskey oder Schwarzgebrannten. Er trank sie aus, wischte sich den Mund und das sommersprossige Gesicht ab und warf die Flasche weg. Culbeau seufzte.
»Hey, Sean, bist du sicher, dass du irgendwas am Weg liegen lassen willst, auf dem deine Fingerabdrücke sind?«, fragte er spöttisch.
»Oh, stimmt.« Der schmächtige Mann huschte ins Gebüsch und sammelte die Flasche ein.
»Tut mir Leid.« Tut mir Leid? Sean O'Sarian entschuldigte sich? Culbeau starrte ihn einen Moment lang ungläubig an, dann winkte er sie mit einem kurzen Kopfnicken weiter. Sie kamen zu einer Flussbiegung, und da sie sich auf einer Anhöhe befanden, konnten sie meilenweit stromabwärts blicken.
»He, schau mal, da vorn«, sagte Tomel.
»Da ist ein Haus. Wetten, dass der Junge und der Rotschopf dorthin unterwegs sind?« Culbeau blickte durch das Zielfernrohr seines Jagdgewehrs. Etwa zwei Meilen vor ihnen stand ein Ferienhaus mit
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