Jeier, Thomas
Europäer wie Könige regierten. Die Bewohner der amerikanischen Ostküste wussten bereits von den blassen Männern, die in riesigen Kanus über den Ozean segelten. Schon 1525 war der italienische Entdecker Giovanni da Verrazano unter französischer Flagge entlang der Küste von Virginia nach New England gesegelt. Dort war er einer Abordnung der Wampanoag-Indianer begegnet, die er als »großzügige Leute« beschrieben hatte.
Das Geheimnis der »Lost Colony«
Am 13. Juli 1584, über 20 Jahre vor der ersten dauerhaften Siedlung der Engländer in Jamestown und über 30 Jähre vor Ankunft der Pilgerväter in New England, beobachteten einige Krieger der Algonkin, wie zwei Segelschiffe in einer Bucht von Roanoke Island vor Anker gingen. Ohne sich den Fremden zu zeigen, beobachteten sie, wie die Männer an Land kamen, eine Lanze mit einem bunten Tuch in die Erde rammten und niederknieten. Sie vermuteten, dass die Weißen ihren Göttern für die sichere Ankunft dankten, wussten aber nicht, dass die Zeremonie auch dazu diente, das Land für die englische Königin »as rightful Queen«in Besitz zu nehmen.
Philip Amadas und Arthur Barlowe, die Befehlshaber der Schiffe, waren im Auftrag von Sir Walter Raleigh, einem Vertrauten Queen Elizabeths I., nach Amerika gekommen, um dort eine dauerhafte Kolonie zu errichten. Sie ankerten vor den Outer Islands und hatten große Mühe, sich in dem Labyrinth von kleinen Inseln zurechtzufinden. Die Indianer beobachteten sie drei Tage lang, erst dann hieß Granganimeo, der Bruder des Sachems, die Engländer willkommen. Sachem Wingina war in einer Schlacht gegen die verfeindeten Nachbarn auf dem Festland verwundet worden und kurierte seine Wunden. Granganimeo tauschte die üblichen Höflichkeiten mit den Neuankömmlingen aus und lud sie in das Dorf seines Bruders ein, das sich auf der Insel befand, die später den Namen »Roanoke Island« bekommen sollte. Er sprach diese Einladung nicht nur aus Höflichkeit aus. Er war sich im Klaren darüber, dass die Engländer waffentechnisch überlegen waren und wollte sie als Verbündete gewinnen.
Den Roanoke-Indianern war nicht an der Freundschaft der bärtigen Männer gelegen. Sie waren weder die »unschuldigen Wilden«, wie sie in einem Großteil der Literatur beschrieben werden, noch »noble savages«, die mit ihren Nachbarn in Frieden lebten und die blassen Fremden als Götter ansahen. Sie waren ein mächtiges Volk, das Wingina durch den Zusammenschluss mehrerer Dörfer geschaffen hatte, und handelten aus reinem Kalkül: Sie brauchten »montoac«, die überlegene Technik der Engländer, um ihre Nachbarn beherrschen zu können. Äxte, Messer und Schwerter und die mächtigen Feuerrohre, das war es, worauf sie es abgesehen hatten. Dafür waren sie bereit, ähnlich wie später die Wampanoag bei den Pilgervätern, die Engländer zu verpflegen und sie mit Tabak zu versorgen.
Die Rechnung ging auf. Indem sie einen Teil ihres Landes hergaben, erwarben die Algonkin wertvolle Waffen, die ihnen einen unschätzbaren Vorteil im Kampf gegen ihre Feinde verschafften. Arthur Barlow notierte in sein Tagebuch: »Die Insel hat viele gute Waldungen und ist, selbst mitten im Sommer, voll von Rotwild, Kaninchen, Hasen und Federvieh. Die Wälder sind nicht [...] öde und unfruchtbar, sondern es finden sich hier die größten rotstämmigen Zedern der Welt [...] wir begegneten einem freundlichen, zutraulichen, vertrauenswürdigen Volk, bar aller Arglist und Niedertracht und wie im Goldenen Zeitalter lebend.«
Um sich die Vorteile, die ihnen die Engländer verschafften, auch weiterhin zu sichern, schickten die Algonkin zwei Krieger mit nach England. Manteo und Wanchese sollten weitere Erkundungen über die Fremden einholen. Sie blieben ein Jahr in England, lernten perfekt Englisch und stachen am 9. April 1585 mit Sir Richard Grenville, einem Cousin des gerade zum Ritter geschlagenen Sir Walter Raleigh, und 600 Passagieren in See, um in der neuen Kolonie Virginia eine dauerhafte Siedlung zu errichten. Von den Siedlern kamen allerdings nur 200 an. Etliche Männer schlossen sich Piraten in der Karibik an, einige Schiffe gingen in einem schweren Sturm verloren, manche Männer wurden krank und starben.
Manteo und Wanchese blieben bei Grenville. Beide waren tief beeindruckt von der englischen Gesellschaft, kamen aber, was die Engländer anbetraf, zu einem unterschiedlichen Schluss: Mateo war von der Stärke der Engländer angetan und betrachtete sie als mächtige
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