Jemand Anders
Schädel-Hirn-Trauma?
Hinten taucht Regina auf, winkt mit einem Büschel Maiglöckchen. Diese Frau! Sie hält es nicht aus, einmal nichts zu tun. Nicht einmal beim Wandern.
Zwischen den Wurzeln eines Baumstumpfs glänzt etwas im Moos, ich bücke mich danach. Nein, es ist nicht das Handy. Es ist eine silberne Halskette mit einem kleinen, schmutzigen Anhänger. Ich brauche ihn nicht abzuwischen, um zu wissen, was er darstellt: ein Schutzengerl. Onkel Gerhards Medaillon, das er mir am Tag vor seinem Ende in die Hand gedrückt hat. Das ich an Regina weitergab, kaum dass er unter der Erde war. Natürlich gehört es sich nicht, ein Geschenk weiterzuschenken. Aber was hätte einer wie ich mit einem Schutzengerl anfangen sollen? Hinten steht Gott schütze dich drauf, in Großbuchstaben und mit Rufzeichen. Regina hat es immer gern getragen, Tag und Nacht. Als sie sich bei ihrem ersten Besuch im Krankenhaus über mich beugte und mir zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange drückte, ist mir aufgefallen, dass etwas fehlte. Dass nichts mehr über ihrem Ausschnitt pendelte. Wo ist das Ketterl?, hab ich gefragt. Verloren, sagte sie, muss irgendwo verloren gegangen sein ...
Schnell stecke ich es in die Hosentasche. Ich glaube nicht, dass sie es bemerkt hat.
„Schau“, sagt sie und hält mir den dünnen Strauß entgegen. „Sind sie nicht schön?“
„Ist es da passiert?“, frage ich.
Sie nickt.
„Bei diesem Felsen?“
„Mhm.“ Es klingt ein wenig zögerlich. „Soviel ich weiß.“
Komisch, denke ich. Seit wann bist du dir auf einmal unsicher?
„Komm, gehen wir weiter!“ Sie zieht mich am Ärmel. Ich rühre mich nicht von der Stelle.
„Erzähl mir noch einmal, wie das Ganze abgelaufen ist.“
Sie lacht laut auf. „Aber ich hab dir doch schon alles erzählt ...“
Ja, das hast du wohl. Und langsam gewöhne ich mich an den Hinweis. Das letzte Mal kam er von einer, um die ich mich vor dem Unfall sehr intensiv gekümmert haben soll. Aber davon wirst du nie etwas erfahren.
„Du hast gesagt, dass du die Rettung benachrichtigt hast, nachdem ich mich bei dir gemeldet habe. Richtig?“
„Richtig.“
„Ich habe dich also gerade noch daheim anrufen können, dann bin ich weggedämmert.“
„Ja, offenbar. Als sie dich gefunden haben, warst du schon längst bewusstlos.“
„Ist das nicht eigenartig? Ich meine, du weißt doch, dass ich das Handy kaum einmal eingeschaltet habe. Und bis die Verbindung steht, dauert das auch seine Zeit. Das alles soll ich hingekriegt haben, bevor ich ins Koma fiel?“
„Du hast eben großes Glück gehabt. Wir haben Glück gehabt.“ Ihr Handrücken streichelt über meine Wange. „Und jetzt komm, die Blumen brauchen Wasser.“
Bis zum Grünen Baum sind es noch mindestens zwei Kilometer, aber es bleibt still zwischen uns. Keine einzige Schnulze kommt ihr über die Lippen, kein nostalgisches Summen, kein Love, love me do . Angestrengt schaut sie geradeaus, marschiert stramm vor mir her mit hoch erhobenem Kopf.
Die Maiglöckchen baumeln müde in ihrer Linken.
*
„Servas.“
Der Habringer ist immer derselbe: Ohne einen Funken Freundlichkeit in den Augen. Ein ganz ein Hantiger, aber mit einem weichen Kern. Bilde ich mir jedenfalls ein.
„Warst schon lang nicht mehr da.“ Aus seinem Mund klingt die Feststellung wie der reinste Vorwurf. „Zwei Hirter?“
„Ja eh“, sage ich.
„Ha!“, macht der Habringer. „Jetzt fängst auch schon damit an.“
„Bitte?“
„Ja eh, ja eh ... So hat doch der immer g’redet, mit dem du das letzte Mal da warst. Aber was soll’s: Über die Toten nix Schlechtes net. Hab sein Bild in der Zeitung g’sehn, Abteilung Abgestorben Amen . Ein Lehrer, der die Frühpension nicht packt: Wenn das kein Pech ist!“
„Der Bell? Ich war mit dem Bell da?“
„Ja, so hat er geheißen. Und mit noch einem. Wirst dich wohl noch erinnern können?“
Ich schüttle den Kopf und erkläre, was mein Problem ist in letzter Zeit.
„Schön blöd.“ Der Habringer schiebt das Kinn nach oben. Er mustert erst mich, dann Regina. „Wie hältst es nur aus mit einem, der nicht einmal mehr weiß, mit wem er sich z’sammensauft?“
Sie antwortet nicht, verzieht nur leicht den Mund.
„Jetzt bring uns halt endlich das Bier“, sage ich. „Außerdem hätten wir gern zwei Bratl.“
„ Ein Bratl“, sagt Regina. „Ich hab’ keinen Hunger.“
Wir sind die einzigen Gäste in der finsteren Stube. Abwechselnd schauen wir zum Fenster hinaus. Die Maiglöckchen
Weitere Kostenlose Bücher