Jemand Anders
Kraftmaschinen versuchen. An der Seitenwand der Kapelle hat einer in krakeliger Schrift seine Botschaft hinterlassen: Fürchtet euch! Kein unpassender Kommentar an diesem Ort des Glaubens, auch wenn der unbekannte Sprayer es vermutlich anders gemeint hat als ich. Die Gottesfürchtigen wissen: Ihre Furcht vor Ihm, der obersten Obrigkeit, ist angebracht. Umgekehrt fürchten die von Gottes Gnaden Regierenden nichts so sehr wie seine Leugnung, raubt sie doch auch ihnen die Legitimation.
Das erste Mal seit meinem Unfall, dass ich wieder unterwegs bin zum Grünen Baum. Ich freu mich schon auf das Bratl und die Knödel. Der Habringer macht die besten Reiberknödel auf der Welt, jedenfalls, seitdem Oma nicht mehr ist. Sie hat immer gewusst, wo sie möglichst mehlige Erdäpfel herkriegt – roh gerieben und versetzt mit der aus dem Presswasser gewonnenen Kartoffelstärke, ergaben sie jene wunderbare Konsistenz der Reiberknödel, flaumig und kompakt zugleich. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, die Knödel nach Kochbuch zu machen, und natürlich brauchte sie keine Waage dazu.
Es gibt Dinge auf der Welt, die kann man nicht messen. Die muss man begreifen, Edgar, be-greifen!
Als Bub habe ich Räuberknödel verstanden, das allein machte sie mir schon sympathisch. Damit die Knödel infolge der Oxidation nicht grau wurden, hat Oma sie geschwefelt. Was heute, im Zeitalter der industriell hergestellten Kartoffelstärke, nicht mehr nötig ist: Die Knödel bleiben auch ohne Schwefel blitzweiß, das Gräuliche kommt nicht mehr zum Vorschein.
Mir rinnt das Wasser im Mund zusammen. Der Appetit hat mir neue Kraft verliehen, und auf der nächsten Steigung schaffe ich es sogar, Regina ein ganzes Stück abzuhängen. Oben heißt es erst einmal verschnaufen. Ich grätsche die Beine, beuge mich vornüber, lasse die Arme baumeln. Als ich mich wieder aufrichte, dämmert mir auf einmal, wo ich mich befinde: dort drüben die Föhre mit der Blitzspur, dahinter die Sautränke, ein kleiner, kreisrunder Weiher, und direkt vor mir ein Trumm Fels. Das muss der Findling sein, wo man mich gefunden hat, mit einem ordentlichen Loch im Schädel. Ich umkreise den Granitblock und hefte den Blick auf den Boden. Womöglich liegt ja auch mein verlorenes Handy noch irgendwo herum.
Was genau hat sich am achtundzwanzigsten Jänner hier abgespielt?
Der Platz rund um die Sautränke sieht aus wie ein Schlachtfeld, ein Schlachtfeld der Natur: schräg aufragende, ineinander verkeilte Stämme, die sich gegenseitig am Fallen hindern; nach drei Sturmjahren in Folge kommen die Forstarbeiter nicht mehr nach mit dem Aufräumen. Der Boden übersät von Ästen jeder Größe und Länge – welcher davon hat mich wohl getroffen? Ich hebe einen dicken Prügel auf, darunter wimmelt es von kleinen, weißen Maden. Nein, der nicht. Oder vielleicht der da? Wenn ich Blut darauf fände, wüsste ich Bescheid. Aber eigentlich bräuchte ich nur Regina fragen.
Das modrige Holz – es riecht nach Onkel Gerhard. Bevor es mit ihm zu Ende ging, wollte er noch einen Urlaub mit mir verbringen.
„Ich bezahle alles. Dafür bestimme ich das Ziel.“
Ich hatte nichts dagegen.
„Wir fahren dorthin, wo der Boden am weichsten ist.“
„Und wo ist der Boden am weichsten?“
„Im Grenzland zwischen Schweden und Norwegen, auf der Höhe von Östersund.“
Er setzte seinen Kopf durch. Wir verbrachten fast zwei Tage im Zug, weil er Fliegen nicht ausstehen konnte. „Das geht mir viel zu schnell“, pflegte er zu sagen, „da kommt die Seele nicht mit.“ Im Zug hatte er dann genügend Zeit, von unserem Ziel zu schwärmen.
„Wenn du diese Landschaft erwanderst, trittst du immer weich auf. Sinkst ein bei jedem Schritt und schwebst doch über dem Boden, der ganze Körper leicht und beschwingt. Bis du kapierst, dass das ganze Schwingen einer einzigen Kraft zu verdanken ist: der Wirkkraft des Todes. Denn du wanderst dahin auf den Überbleibseln von Tausenden von Leichen, ob’s einmal turmhohe Fichten waren oder knorrige Zwergbirken, die hier zerfallen zu Moor und Moos.“
Mein poetischer Onkel Gerhard. Es war das letzte Mal, dass er ohne Rollstuhl unterwegs gewesen war. Längst ist er selbst schon zerfallen ...
Ich versetze dem dürren Ast vor mir einen Tritt, im Flug noch bricht er auseinander. Nein, der kann es auch nicht gewesen sein. Alles, was hier herumliegt, ist morsch und in Auflösung begriffen. Und das soll mich mit Wucht gegen den Felsen geschleudert haben? Deswegen das
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