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Jemand Anders

Jemand Anders

Titel: Jemand Anders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kabelka
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wir steckten in einem fürchterlichen Dilemma: Entweder ihr sagt, wer von euren Zöglingen nicht arischer Herkunft ist, oder wir finden das mit unserer Methode heraus. Darunter hätten alle zu leiden gehabt. Wir haben es uns gewiss nicht leicht gemacht, haben nächtelang beraten. Am Ende kamen wir zum Schluss: Früher oder später werden sie ihn doch holen. Lass uns versuchen, etwas für die große Mehrheit zu tun und das Konvikt zu retten, sagte der Rektor. Es war keine Frage von richtig oder falsch, sondern welches Übel man eher in Kauf nehmen wollte. Aber das kann heute wohl keiner verstehen.“
    „Und so habt ihr den Buben ausgeliefert.“
    Keine Frage – eine Feststellung. Sie starren einander an wie zwei Irre. Irregeworden an sich und an der Welt. An ihrer Tragfähigkeit. Die Erbsünde, sie hat ein Gesicht bekommen.
    „Ich werde jetzt gehen“, hört Fidelis den Alten sagen. Es klingt dumpf, als käme die Stimme aus einem diffusen Nirgendwo. „Man möchte meinen, der Glaube würde einem eine Stütze sein in der neunten Stunde, wenn die Finsternis kommt übers Land. Aber ich war wohl nie wirklich gläubig. Hab immer nur gehofft darauf, es einmal zu werden. Wenn du sie nur lange genug hochhältst, diese Hoffnung, ist sie am Ende fast so gut wie der Glaube selbst. Ein Placebo des Glaubens, gewissermaßen.“
    Placebo Domino in regione vivorum . Ich werde dem Herrn gefallen im Lande der Lebenden. Der gute alte Psalm 116, im Mittelalter die Nummer eins bei Begräbnissen. Aber was würde der Herr sagen zu so einem Diener?
    Pater Xaver quält sich die Marmorstufen zum Haupteingang hinauf. Ein Ungläubiger nach eigenem Bekunden. Ein schwacher Greis. Und dennoch.
    „Buße!“, ruft Fidelis ihm nach. „Wo bleibt die Buße?“
    Der andere zuckt zusammen, aber er dreht sich nicht um.
    *
    Sie finden ihn erst nach dem Mittagessen. Dass er weder bei der Frühmesse noch beim Frühstück erschien, ist niemandem aufgefallen, zu oft hat er beides in letzter Zeit ausgelassen. Da er nicht mehr als Präfekt eingesetzt wird, sondern nur noch fallweise den Schwestern in der Küche zur Hand geht, vermisst ihn den ganzen Vormittag über keiner. Als er auch zu Mittag nicht im Refektorium erscheint, bittet der Rektor Pater Klaus, nach dem Rechten zu sehen. Nach fünf Minuten kommt er zurück, aschgrau im Gesicht.
    „Betet für unseren Bruder Xaver, Brüder! Er hat sich das Leben genommen.“
    Aufgehängt am Zingulum, dem weißen Strick mit den drei Knoten darin: Gehorsam, Armut, Ehelosigkeit. Fidelis leidet entsetzlich. Ich habe ihn der Sünde bezichtigt, jetzt habe ich mich selbst an ihm versündigt. Erst entlocke ich ihm das traurige Geständnis, dann lasse ich ihn alleine in seiner großen Not. Die alte Wechselbeziehung zwischen Schuld und Beschuldigung – sie hat ihn eingeholt! Ihm ist, als hinge er am selben Strick wie der Tote.
    Und so, wie Pater Rektor ihn bei der Predigt am nächsten Sonntag mit dem Blick fixiert, steht für Fidelis fest: Auch er erkennt die Zusammenhänge.
    „Schon der Heilige Augustus hat gewusst, welch eine gefährliche Krankheit die Neugier ist. Er hat uns davor gewarnt, der Natur alle Geheimnisse entreißen zu wollen. Manche versuchen dasselbe in Bezug auf die Vergangenheit. Aber es ist eitle Vermessenheit, alles verstehen zu wollen! Alleine dem Herrn in seiner Allwissenheit steht es zu, zu richten über die Lebenden und die Toten ...“
    Eine knappe Woche später wird der Rektor die Lügen zweier Vierzehnjähriger dazu benutzen, um sehr wohl zu richten.
    Doch davon ahnt Fidelis noch nichts. Er kniet auf der harten Bank und betet darum, dass Pater Xavers Seele den ewigen Frieden finden möge. Obwohl Selbstmord nach kirchlicher Lehre ewige Verdammnis nach sich zieht. Er erinnert sich gut an das theologische Seminar, in dem dargelegt wurde, weshalb der Suizid so verwerflich sei: weil er die Reue verunmögliche, und damit die Vergebung der Sünden. Aber was, wenn der Suizid selbst Ausdruck der Reue ist? Hat sich nicht schon der alttestamentarische König Saul ins eigene Schwert gestürzt, um weiterer Schande zu entgehen? Und wurde dessen Waffenmeister Achitofel, der ihm freiwillig in den Tod folgte, nicht ehrenhaft im Grab seines Vaters beigesetzt? Die Bibel verurteilt die Selbstmörder nicht, überhaupt verurteilt sie weniger häufig als Rom.
    Jedenfalls kann keiner ihm verbieten, für den zu beten, der am Ende Buße tat.

0017.amr
    „Mein Gott, das Konvikt! War nicht immer lustig, vor allem auf die

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