Jemand Anders
für die SS als KZ-Wachmann gearbeitet zu haben, und schweigt seit Prozessbeginn. Die Anklage stützt sich auf seinen von der SS ausgestellten Dienstausweis sowie auf Verlegungslisten und Waffenbücher des Ausbildungslagers Trawniki und der Lager Sobibor und Flossenbürg von 1943 bis 1945.
In der heutigen Verhandlung sagte der ehemalige Weggefährte Alex Nagorny gegen seinen Landsmann aus. Der Zeuge will den wegen Beihilfe zum Massenmord angeklagten John Demjanjuk auf Fotos als KZ-Wachmann wiedererkannt haben. „Der Kamerad Demjanjuk hat zusammen mit mir als bewaffneter Wachmann im Konzentrationslager Flossenbürg gedient“, erklärte der 93-jährige Alex Nagorny vor dem Münchner Schwurgericht. „Der war da Wachmann. Er hat dasselbe gemacht wie ich“, sagte der gebürtige Ukrainer. Vom Vernichtungslager Sobibor dagegen sei ihm nichts bekannt, und er habe mit Demjanjuk auch nie darüber gesprochen: „Ich war nicht da. Das sagt mir gar nichts.“
Die Szene im Gerichtssaal hatte etwas Groteskes an sich. Der 89-jährige Angeklagte war, bekleidet mit einem grünen Parka, auf einem Bett hereingetragen worden. Auch als er auf Anordnung des Richters seine Sonnenbrille abnehmen musste, erkannte ihn der Zeuge nicht. „Keine Ähnlichkeit“, sagte der 93-jährige Nagorny.
Der Zeuge berichtete, er sei in Trawniki von der SS ausgebildet worden, aber Demjanjuk habe er erst in Flossenbürg kennengelernt. Als Wachmänner seien sie mit Maschinengewehren und italienischen Karabinern bewaffnet gewesen. In der Freizeit seien sie in eine Wirtschaft in der Nähe des Lagers zum Biertrinken gegangen. Von Flossenbürg seien sie kurz vor Kriegsende zusammen zur Wlassow-Armee abkommandiert worden, später hätten sie dann zusammen in Landshut gewohnt. Demjanjuk habe schließlich geheiratet und sei nach Amerika ausgewandert, er selbst habe dagegen kein Visum bekommen, sagte Nagorny. Erst als Demjanjuk als vermeintlicher „Iwan der Schreckliche“ 1988 in Jerusalem zum Tode verurteilt wurde, habe er wieder von ihm gehört. „Jetzt habe ich ihn nicht erkannt. Aber im Fernsehen hab ich ihn damals erkannt“, sagte Nagorny.
Voraussichtlich werde der Prozess weit länger dauern als geplant, merkt der Moderator an, das Landgericht habe bereits Verhandlungstermine bis zum 13. September festgelegt. Es folgt ein Interview mit dem mir unbekannten, aber offensichtlich renommierten Historiker Manser zu den Besonderheiten dieses Gerichtsverfahrens. Manser schießt sich auf die bisher zutage getretenen Probleme und Peinlichkeiten ein.
Nagorny ist der Einzige im Prozess, der sich persönlich an den in der Ukraine als „Iwan“ geborenen John Demjanjuk erinnern kann. Doch die Erinnerung daran, was vor fast 70 Jahren im Zweiten Weltkrieg passiert ist, verlässt den 93-Jährigen immer wieder. Eine andere Schwachstelle: Alle, die bisher als Zeugen aussagten, konnten zwar von den Zuständen im Vernichtungslager Sobibor berichten; davon, wie Transportzüge, auch Kindertransporte, ankamen und von Trawnikis bewacht wurden. Doch an einen Wächter namens Demjanjuk kann sich niemand erinnern.
All dies, erklärt Manser, könne durchaus dazu führen, dass der Prozess für den Vertreter der Anklage in einem veritablen Flop endet. Und damit der Sache der KZ-Opfer natürlich einen Bärendienst erweist.
Meine Nase reibt am kalten Glas. Der Zug durchquert bereits die Aulandschaft nördlich von Treibern. Ein gefiedertes Etwas stiebt aus der Wiese auf, aufgescheucht vom vorbeidonnernden Zug, schon ist es wieder aus meinem Blickfeld verschwunden.
Ein Fasan!
Wann habe ich den letzten frei fliegenden Fasan in dieser Gegend gesehen? Gelten sie nicht längst als ausgestorben – wie jene Herren, von denen man jetzt einen aufs Bett geschnallt in den Gerichtssaal tragen muss? Irgendetwas irritiert mich an der Geschichte, versetzt mich in eine unerklärliche Unruhe. Mein Schädel dröhnt immer noch. Ich schalte das Handy aus, stecke es zurück in die Brusttasche.
Liegt es an den fatalistischen Kommentaren des Historikers, an seiner heftigen Kritik am Staatsanwalt und dessen mangelhafter Vorbereitung auf diesen vielleicht letzten Kriegsverbrecherprozess, der anno 2010, fünfundsechzig Jahre nach Kriegsende, in Deutschland gegen einen Greis angestrengt wird? Aber was sollte mich daran so berühren? Die meisten dieser Verfahren haben immer schon mehr oder minder kläglich geendet, mit halbseidenen Freisprüchen oder ebenso unbefriedigenden Verurteilungen. Unsäglich,
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