Jene Nacht im Fruehling
Geduld nicht überzustrapazieren: »Gehörte die Person, die bei der Entbindung von dir und deinem Bruder Geburtshilfe leistete, etwa auch zu deiner Familie?«
»Die Hebamme? Ja. Sie ist eine Kusine meiner Mutter und ...«
»... und hat dich und deine ganze Familie genauso belogen wie du jetzt mich! Dein Bruder Kane sieht dir nämlich überhaupt nicht ähnlich. Wenn ihr tatsächlich Zwillinge seid, dann höchstens zweieiige und keine eineiigen. Oder du bist ein Achtmonatskind und er ist ein Neunmonatskind, oder umgekehrt, was euch in beiden Fällen zu ganz gewöhnlichen Brüdern macht und nicht zu Zwillingen.«
»Aber Sam«, unterbrach Mike sie fassungslos, »Kane und ich haben beim Ähnlichkeitswettbewerb für eineiige Zwillinge stets den ersten Preis gewonnen!«
»Dann müssen die Verlierer verschiedene Hautfarben gehabt haben. Und wenn du jetzt nicht mit diesem Un ...«
Sie konnte kein Wort mehr sagen, weil Mike sie in die Arme genommen hatte und sie abzuküssen begann. >>Sammy, Liebling, es war wirklich nicht meine Absicht gewesen, dich zu demütigen - ehrlich nicht! Kane und ich haben schon als Kinder dieses Spiel mit anderen Leuten getrieben. Seitdem ist dieses Verwechslungsmanöver ein fester Bestandteil unseres Aufnahmerituals für neue Mitglieder unserer Familie, ein Test...«
».. . den ich verpatzt habe«, ergänzte Samantha trübsinnig.
Er lachte. »Verpatzt? Im Gegenteil - du hast ihn mit Glanz und Gloria bestanden! Komm, laß uns zur Familie zurückgehen, damit du dich davon überzeugen kannst!«
Sie erlaubte ihm, den Arm auf ihrer Schulter zu belassen und sie zu den anderen zurückzubringen. Aber als sie die Picknicktische erreichten und Samantha Kane dort mit seiner Mutter reden sah, sagte sie: »Wenn dein Bruder es noch einmal wagen sollte, mich anzufassen, wird er das bereuen!«
Mike küßte sie auf die Wange. »Nein, ich werde nicht zulassen, daß er dich noch einmal anfaßt.« Da sprach ein solcher Stolz aus seiner Stimme, daß Samantha davon absah, ihn zu fragen, warum er ihr denn verschwiegen hatte, daß er einen Zwillingsbruder besaß.
In einem Punkt hatte Mike sie jedoch nicht belogen: Seine Familie war tatsächlich außerordentlich angetan davon, daß sie gewußt hatte, welcher von den beiden Zwillingsbrüdern Mike war und wer nicht. Sie selbst konnten die beiden nämlich kaum oder überhaupt nicht auseinanderhalten, soweit sie das zu beurteilen vermochte, und das war auch der Grund gewesen, warum sie Mike anfangs nicht begrüßen wollten, als er plötzlich unter ihnen auftauchte: Sie hatten ihn für Kane gehalten. Samantha war versucht, ihnen den Besuch bei einem Augenarzt zu empfehlen, wenn sie meinten, Mike sähe seinem Bruder Kane zum Verwechseln gleich, denn sie vermochte kaum eine Ähnlichkeit zwischen den beiden festzustellen. Kane sah in ihren Augen im Gegensatz zu seinem Bruder ziemlich gewöhnlich aus. Wenn Kane auch hübsch war - das mochte sie ihm ja noch zugestehen -, so hatte er doch bei weitem keinen so schönen Mund wie Mike, auch nicht so prächtige Locken und nicht diesen elastischen Gang. Kane schien ihr sogar ein bißchen fett zu sein, während Mike nur schieres Muskelfleisch unter der Haut hatte.
Den Rest des Tages über mußte sich nun Samantha allerlei Verwirrspiele gefallen lassen, weil alle Familienmitglieder - mit Ausnahme von Mikes Eltern und Jilly - Kane immer wieder mit Mike anredeten. Offenbar versuchten sie damit ihre Glaubwürdigkeit - oder ihre Standhaftigkeit? - zu erschüttern, was ihnen natürlich nicht gelang. Und als ihr Kane noch einmal die Hände auf die Schultern legen wollte, als sie ihm gerade den Rücken zudrehte, dachte sie: Himmel, dieser Mann schwitzte sogar ganz anders als Mike!
Es war schon fast Abend - die Kinder wurden bereits müde und die Männer hatten sich von den Frauen getrennt und sich zu einem Schwatz untereinander zusammengefunden -, als Samantha endlich Gelegenheit fand, sich in einen Stuhl unter einen Baum zu setzen und Mikes Verwandtschaft in Muße aus der Distanz zu betrachten. Es waren mehr Taggerts als Montgomerys zu diesem Familientreffen gekommen, doch von beiden eine so reichliche Anzahl, daß sie diese, nachdem sie einen halben Tag in ihrer Mitte verbracht hatte, allmählich voneinander zu unterscheiden vermochte.
Die Männer der Montgomery-Familie unterschieden sich nicht nur in körperlicher Hinsicht, sondern auch in ihrem Wesen erheblich von jenen der Taggert-Familie. Die Taggerts waren fast alle einen Kopf
Weitere Kostenlose Bücher