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Jennerwein

Jennerwein

Titel: Jennerwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Böckl
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und Nicken des Jungen, dann schnappte sich Georg Jennerwein ein Schaff und einen Schemel. Das Melken hatte er gelernt, zu Haid und zu Gelang. Jetzt bewies er es dem Almhüter; schon nach wenigen Strichen nickte der Habichtsnasige und nahm sich seinerseits die nächste Kuh vor. Wortlos, nur gelegentlich mit einem Zwinkern hin und her, arbeiteten sie Seite an Seite bis zum Einbruch der Nacht. »Eine Vesper und ein Lager im Heu hast dir ehrlich verdient, Bub«, sagte der Senn zuletzt. Dankbar folgte ihm Georg Jennerwein in die Hütte.
    Nachdem sie die letzten Reste Bratkäse und Brot aus der gußeisernen Pfanne gekratzt hatten, wollte der Hirte wissen: »Wo kommst denn her, Bürscherl?«
    »Aus dem Waisenhaus von Wolfratshausen. Aber das ist abgebrannt«, log der Zwölfjährige. Er hatte sich die Antwort zuvor nicht zurechtgelegt gehabt; wie von selbst war sie ihm auf einmal durch den Schädel geschossen. »Da bin ich bis ins Gebirg’ gelaufen«, setzte er hinzu. »Weil ich geglaubt hab’, daß ich hier Arbeit finden könnt’. Weil ich was versteh’ von den Rindviechern. Eh’ mein Vater und meine Mutter verstorben sind, haben wir selbst ein Gütl gehabt. Fünf Küh’ und ein Kalb im Stall…«
    Der Habichtsnasige beutelte erschüttert den Schädel. War naiv geworden, was die Welt außerhalb seiner Einsamkeit anging, glaubte dem Grauäugigen deswegen jedes Wort. »Den Herrgott, manchmal versteht unsereiner den nicht«, murmelte er. »Auf jeden Fall, daß du das Zeiteln {34} kannst, hab’ ich gesehen. Hätt’ auch einen Buben nötig auf der Alm. Bloß der Bauer, der Notnickel, hat mir keinen erlauben wollen in diesem Jahr. Kannst also gern dableiben von mir aus. Wenn du mit dem Essen allein zufrieden bist. Weil, einen Lohn…«
    »Brauch’ keinen Lohn«, unterbrach ihn Georg Jennerwein. »Brauch’ nicht mehr als das, was du mir geben kannst. Ist immer noch viel besser als im Waisenhaus!«
    »Dann geh und hol uns einen Waitling Milch herein«, erwiderte der Alte mitleidig.
     
    *
     
    »Sommerfrischler!« sagte der Senn ungefähr eine Woche später verächtlich. »Die saufen die Milch ohne Sinn und Verstand. Gradso, als ob sie’s vom Himmel regnen tät’. Von der Arbeit, die dranhängt, haben sie keine Ahnung. Gschwerl {35} , elendiges!« Er stierte zur Bank hinüber, wo die Urlauber aus München lärmten. Drei Männer und zwei ziemlich herausgeputzte Frauen. Dazu der Bergführer, den sie unten in Kochel gemietet hatten. »Noch nicht einmal auf eigenen Füßen können s’ stehen, im Gebirg’«, fuhr der Alte fort. »Einen Leithammel brauchen s’, die Narren!«
    »Werden bald wieder verschwunden sein. Haben vorhin eh gesagt, daß sie sich vor einem Unwetter fürchten«, grinste der Girgl.
    Da mußte der Senn wider Willen lachen. »Ein Gewitter gibt’s heute bestimmt nicht, bei dem Himmel«, schnaubte er. »Das hat ihnen der Bursch aus Kochel bloß weisgemacht. Weil er ins Wirtshaus will, seinen Lohn versaufen. – Aber uns soll’s recht sein, wenn sie bald wieder weiter sind. Besonders weil ich mein’, daß sich heut noch der Gangerl auf der Alm zeigt…«
    »Der Gangerl?« Georg Jennerwein hatte das unterschwellig Bedeutungsvolle in der Stimme des Habichtsnasigen ganz genau erspürt. Näher schob er sich an seinen Gönner heran. Aber der Hirte erwiderte bloß: »Wirst’s schon sehen, was das für einer ist! Wirst’s schon merken, Girgl…«
    Wenig später zogen die Sommerfrischler in der Tat ab, und alsbald düsterte sich über dem Kamm der Benediktenwand der Himmel ein. Die Gedanken des Georg Jennerwein flirrten zwischen dem Gangerl und den Urlaubern hin und her.
    Einer der Münchner hatte versucht, ihn auszufragen: »Was treibt ein Kind wie du im wilden Gebirge? So, eine Waise bist du! Aber müßten sich da nicht die Behörden um dich kümmern? Oder die Kirche?« Das war das eine gewesen, und der Zwölfjährige hatte plötzlich Angst verspürt, daß sein Schwindel irgendwie auffliegen könnte. Auf einmal war die Beklemmung wieder dagewesen, die Furcht vor dem Geißler; ein wehes Ziehen jäh auch, wegen der im Stich gelassenen Mutter. Aber mit Hilfe des geheimnisvollen Gangerl hatte der Halbwüchsige das Unbehagen wieder verdrängt, zumindest für eine Weile. Bis es eben doch wieder zurückgekommen war. Jetzt überschattete das eine wechselseitig das andere: das Angstflattern im Magen die Neugierde – und umgekehrt.
    Das hielt an, bis der abnehmende Mond drüben über der Jachenau in die Latschen zu

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