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Jennerwein

Jennerwein

Titel: Jennerwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Böckl
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floh. An der Stelle, wo er geblutet hatte, kauerte jetzt die Mutter; kraftlos, unendlich kraftlos, bis der Geißler, aus dem Fletz heraus, sie rief. Da schleppte sie sich zurück in ihre Hölle, in der es jetzt überhaupt keine Hoffnung mehr für sie gab.
    Georg Jennerwein unterdessen schleppte sich durchs Dorf und dann über den Friedhof. An der Filialkirche vorbei, in der vier Jahre zuvor das Unglück begonnen hatte. Ein paar Dutzend taumelige Schritte später erreichte er das Grab der Großmutter. Gleich neben dem Geißlerschen Hügel mit dem schmiedeeisernen Kreuz lag es. Als der Girgl auf das Kruzifix spuckte, spürte er wieder erschrocken den Zahn, der offenbar bloß noch an ein paar Flechsen hing. Mit den Schmerzen im Mund und im Herzen nahm er Abschied von der Haider Alten. Nur diese eine klägliche Brücke war ihm jetzt noch zur Marei geblieben. Beten konnte er nicht, aber sich trotz allem dumpf sehnen.
    Die Kälte vertrieb ihn schließlich; aufs Gebirge zu lief er davon, und bei jedem Schritt schien sich ihm der verfluchte Zahn ein Stückchen weiter aus dem Fleisch zu lösen.

Die Spielhahnfeder
     
    An den Flechsen, in der Schwebe hing der Schneidezahn des Georg Jennerwein, während der sich auf dem frostigen Weg von Gelting zurück nach Gmund durchschlug. Auch auf dem Osterberg, wieder im Wald, in der Holzfällerbaracke, zischelte der Heimatlose noch wochenlang. Erst dann, allmählich, siegte das jugendliche Blut über den zwischen dem Stiefsohn und dem Stiefvater erfolgten Bruch; die haltlos gewordene Wurzel festigte sich wieder im Kiefer, lediglich schief blieb der Zahn und zeichnete dem Girgl ein Mal ins Antlitz, sein ganzes ferneres Leben lang. {42}
    Von den Holzknechten freilich störte das keinen; höchstens, daß der eine oder andere am Anfang noch ein bißchen spöttelte. Ansonsten waren die rauhbeinigen Kerle froh, den mehr denn je Arbeitswütigen wieder bei sich zu haben. Direkt süchtig schien der Girgl jetzt auf das Axtblinken und das Sägezahnreißen zu sein. Ging die Stämme und Blöcher {43} an wie feindliche Wesen. Stand seinen Mann fünfzehn- und sechzehnjährig. Schuftete sich mit den Kameraden quer über den Osterberg, dann weiter zum Ostin im 63er Jahr. Hieb und schnitt sich hinein in die Hänge des Öder Kogel im folgenden. Juchzte oder hetzte weg im Rudel der anderen, wenn die Tanne, die Buche oder die Eibe stürzten. Zog sich die unvermeidlichen Schmarren und Wunden zu. Hockte an den Sonntagen in den Wirtshäusern unten am See, wiederum im Rudel der Holzknechte, und drehte die Münzen nicht um. In den Rhythmus kam er, auswachsend, hinein, von Knochenarbeit und Rausch. Dann und wann gerieten er und die Holzknechte in eine Rauferei. Auch da war Verlaß auf Georg Jennerwein; zu Gelting, in seiner letzten Nacht dort, hatte er’s ein für allemal gelernt. Seine Faustkunst trug ihm unterm ruppigen Berghimmel noch mehr Achtung ein. Ersatzheimat fand der Fünfzehn-, Sechzehnjährige außerhalb der bürgerlichen und bäuerlichen Grenzen.
    Beinahe zwei Jahre lang hatte Georg Jennerwein, vollwertiger Holzknecht jetzt, nichts mehr von den Geltingern gehört, sie nichts von ihm. Die Zeit hatte das, was einmal gewesen war, zu überkrusten begonnen. Irgendwo hinter dem Mond schienen die Loisach und das Gütl zu liegen; zu einem Schemen schien jetzt selbst das Antlitz der Marei geworden zu sein. Letzteres auch, weil dem Girgl nun allmählich bewußt wurde, daß es noch andere Frauen auf der Welt gab.
    »Herrgott, laß dir doch Zeit!« hielt ihn zu Weihnachten 1864 eine schon leicht übertragene Wirtsdirn von Tegernsee kichernd zurück. Auf dem Heuboden, unter dem bärigen Schiefzähnigen, lag sie mit gerafftem Rock. Der Girgl hatte sie nehmen wollen in einem Zug. »Ein bisserl Zärtlichkeit muß schon sein«, setzte die Dreißigjährige belehrend hinzu und hielt die Knie für einen Moment noch geschlossen. Gleich darauf umspielte ihre Zunge die seine. Georg Jennerwein ging auf das Spiel ein, fand es erstaunlich erregend, küßte sich ihren strammen Hals entlang tiefer. Als er sich ins Brustfleisch wühlte, spürte er, wie unten der Widerstand schmolz, daß sie ihn jetzt aufnehmen wollte. Nun hatte sie nichts mehr dagegen, daß er den ledernen Hosenlatz öffnete; im Gegenteil, mit wissenden Händen half sie selbst mit. Dann aber konnte er sich, da er noch so jung war, nicht mehr zurückhalten. Die Wirtsdirn nahm es ihm nicht übel, die hatte vielmehr Erfahrung genug. Doch beim zweiten Ritt,

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