Jenseits aller Tabus
Tisch. Schweigend beobachtete er ihre Reaktion.
Lucille, die gerade ihre Teetasse genommen hatte, setzte sie wieder ab, ohne einen Schluck zu trinken. Entsetzt schaute sie auf die DIN-A4-große Aufnahme, die sie und einen anderen Mann zeigte. Wie um Himmels willen sollte sie erklären, wer McCarthy war? Und warum sah es so aus, als würde sie sich vorneigen, um ihn zu küssen?
»Lässt du mich heimlich überwachen?«, schoss es wütend aus ihr heraus.
Craig lehnte sich zurück und verschränkte seine Arme vor der Brust. »Der Schnappschuss kam heute mit der Post. Ich habe erst am späten Nachmittag geschafft, sie durchzusehen.«
»Du hast es zugeschickt bekommen? Von wem?«
»Anonym.« Er drehte den braunen Umschlag, den er immer noch in der Hand hielt, um ihn ihr von allen Seiten zu zeigen. Es stand lediglich sein Name darauf. »Keine Briefmarke, keine Adresse, kein Absender.«
Was hatte das schon wieder zu bedeuten? Sie rutschte vor bis auf die Kante des Stuhls. »Er wurde offenbar direkt in den Briefkasten eingeworfen. Das kann nur jemand aus dem Haus getan haben.«
Für Lucille lag das auf der Hand, doch Craig schüttelte den Kopf. »Ich habe ein Postfach in Cape Coral. Briefe und Päckchen werden im Gegensatz zu Paketen nicht direkt ins Haus, sondern an diese externe Adresse geliefert. Jemand von der Security holt sie täglich ab.«
»Das heißt gar nichts. Einer der Wachmänner könnte das Foto geschossen und in die Postkiste gelegt haben, oder es war eine Art Freundschaftsdienst für einen der Angestellten.« Vor ihrem geistigen Auge tauchten die Gesichter von Madison, Taylor und Nate auf. An Patrick als den heimlichen Fotografen glaubte sie nicht, da er sich ihr gegenüber ausgesprochen professionell verhielt. Ihr Verhältnis hatte sich glücklicherweise entspannt. Michelle dagegen hatte sich seit Lucilles Einzug kein zweites Mal blicken lassen, aber Lucille wusste, dass sie Craig öfter in der Reederei aufsuchte.
Craig legte den Umschlag auf seinen Teller. »Wer ist der Mann?«
Nervös rutschte sie auf dem Sitz wieder zurück und trank einen Schluck Schwarztee, um Zeit zu gewinnen. Der frische und fruchtige Geschmack des Darjeelings breitete sich in ihrem Mund aus. Sie konnte wohl kaum die Wahrheit sagen. Wenn Craig erfuhr, dass sie sich mit einem FBI-Agenten getroffen hatte, würde das einen Rattenschwanz von weiteren Fragen nach sich ziehen, die sie nicht beantworten durfte und wollte.
Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, nie wieder allein das Bellamy-Anwesen zu verlassen, nachdem zwei Anschläge auf sie verübt worden waren. Doch Tadhg McCarthy, der kurzfristig in Cape Coral zu tun hatte, hatte sie angerufen und in seiner charmanten Art dazu genötigt, sich am frühen Nachmittag heimlich mit ihm zu treffen. Lucille hatte versucht, das Treffen wenigstens auf vormittags zu verschieben, weil Craig um elf Uhr einen Termin gehabt hatte und ihr Ausflug nicht aufgefallen wäre. Aber McCarthy hatte ihr Uhrzeit und Treffpunkt mitgeteilt und das Telefonat ohne Verabschiedung beendet. Entgegen seiner Pläne hatte Craig dann jedoch ohnehin in der Reederei und nicht wie geplant zu Hause gearbeitet, somit war ihr Verschwinden nicht aufgefallen. Bis jetzt.
Ungeduldig neigte sich Craig zu ihr herüber und stützte sich mit den Ellbogen auf dem Tisch ab. »Nun?«
»Ein Polizist.« Sie nahm ein Scone und schnitt es auf, nur um etwas zu tun zu haben und Craig nicht ansehen zu müssen.
»Ich sehe keine Uniform.«
Betont langsam klappte sie die zwei Brötchenhälften auseinander und schaute sich um, als würde sie überlegen, mit was sie es bestreichen oder belegen wollte, dabei gab es nur Clotted Cream und Marmelade, und das eine ohne das andere zu essen kam einer kulinarischen Sünde gleich. »In Zivil.«
»Er sitzt mit dir in einem Café«, bemerkte er spitz. »Ein Freund von dir?«
»Gott bewahre, nein!« Abwehrend hob sie ihre Hände. »Dieser Kerl hat das Charisma eines Backsteins.«
Ein Lächeln huschte über Craigs Gesicht, doch es verschwand so schnell, wie es aufgeblitzt war. »Weshalb habt ihr euch getroffen?«
Ihr wurde heiß. Sie wusste, wie sehr er Lügen verabscheute, und sie selbst hatte diese ewigen Ausflüchte mehr als satt. Aber McCarthy hatte ihr bei dem Treffen vor drei Stunden verboten, Craig über ihre wahre Identität aufzuklären, als sie darum gebeten hatte. »Nicht böse sein, ja?«
Irritiert runzelte Craig die Stirn.
Sie gab etwas von der Buttercreme auf ihr Scone. »Ich habe
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