Jenseits aller Tabus
wie er ein wenig sonderbar war?
Sie neigte sich zum Kopfkissen herunter und schnupperte. Tatsächlich glaubte sie, Craig zu riechen, war aber unsicher, ob sie es sich nicht nur einbildete, und hauchte einen Kuss auf das Kissen.
Warum tust du das, fragte sie sich, nachdem sie sich wieder aufgerichtet hatte, du solltest von Männern doch eigentlich vorerst genug haben.
Sie war nicht einmal geschieden. Kopfschüttelnd schlug sie die Bettdecke zurück und strich sie glatt. Einen Moment lang war sie versucht, Ava und Cory die Schuld für ihre sündigen Gedanken in die Schuhe zu schieben, doch sie hatte sich schon zu Craig hingezogen gefühlt, bevor sie die beiden bei ihrem Schäferstündchen erwischt hatte.
Vom ersten Augenblick an verband sie eine Art Magie, die Lucille seitdem nicht wieder losließ. Dieser Zauber hatte nichts mit Abenteuerlust zu tun, wie es bei Richard der Fall gewesen war, er war nicht einmal sonderlich aufregend, sondern von leiser Natur und hatte sich langsam in ihr Inneres geschlichen und dort festgehakt. Mehr als das, ihr Interesse an Craig wuchs, und das war alles andere als gut. Er besaß weder den Charme eines Gentlemans, noch sah er so umwerfend aus, dass alle Frauen ihm sofort zu Füßen lagen, aber Lucille erkannte das Besondere an ihm. Worin genau das bestand, würde sie noch herausfinden.
Ihr Blick glitt über die zwei Bilderrahmen, die auf dem Nachttisch standen. Auf dem hinteren Foto erkannte Lucille Craigs Vater wieder, allerdings war er auf dieser Aufnahme zehn bis zwanzig Jahre jünger als auf dem Schnappschuss, der im Flur hing. Sein Arm lag um die Hüften einer herben Schönheit mit kurzen blond gefärbten Haaren und einem warmen Lächeln. Dieselbe Frau war auch auf dem zweiten Foto zu sehen, allerdings spazierte sie darauf allein am Strand entlang und wirkte vollkommen entspannt und glücklich. Das musste Craigs Mutter Mildred sein. Trauerflor hing über beide Rahmen.
Seine Eltern sind verstorben, durchfuhr es Lucille.
Ihr war, als würde sich eine Hand um ihr Herz legen und zudrücken. Armer Craig! Doch dann dachte sie an ihren Vater, der die Familie kurz nach Lucilles drittem Geburtstag verlassen hatte, ihre überforderte Mutter, die geldgierigen Pflegeeltern und spürte förmlich, wie eine heiße Welle der Wut das Mitleid wegschwemmte. Unwillkürlich rieb sie über ihren Oberschenkel, über die Stelle knapp unter ihrem Gesäß, obwohl sie die Narben durch den Stoff des Kleides hindurch nicht fühlen konnte.
Lucille spähte in den benachbarten Raum, in dem ein Sekretär, zwei Sessel und ein kleiner Tisch standen, eine Art Mix aus Arbeits- und Lesezimmer, und wollte gerade hineingehen, um die Jalousien herunterzufahren, als die Badezimmertür geöffnet wurde. Erschrocken flog Lucille herum.
Vor ihr stand Craig Bellamy. Er trug nur ein Handtuch – unglücklicherweise hatte er es nicht um seine Taille gewickelt, sondern über seinen Arm gelegt. Nackt blieb er im Türrahmen stehen, riss überrascht seine Augen auf und erstarrte.
Auch Lucille war wie gelähmt. Sie hätte die Beine in die Hand nehmen und so schnell wie möglich das Weite suchen sollen, aber ihre Füße waren schwer wie Blei und wollten sich keinen Zentimeter bewegen. Ihre Augen dagegen arbeiteten umso eifriger. Ihr Blick huschte über Craigs entblößten Körper. Sie saugte jedes Detail in sich auf und bekam nicht genug.
Wie umwerfend er aussah! Sportlich, männlich, sexy. Lucille geriet ins Schwärmen.
Also waren die Sporträume doch nicht nur Show. Aber er stemmte keine Gewichte, wie Richard es getan und dadurch seine Muskeln regelrecht aufgepumpt hatte, sondern er musste viel Ausdauersport treiben. Seine Haut leuchtete auch nicht kalkweiß, wie sie vermutet hatte. Sanfte Muskelhügel wölbten sich auf seinen Armen, sein Brustkorb sah hart und trainiert aus und seine Schenkel waren fest.
Außerdem war er rasiert.
Unter den Achseln.
Auf der Brust.
Und im Schritt.
Sein Glied war beschnitten, allerdings hatten die Ärzte nur einen kleinen Teil der Vorhaut entfernt. Lediglich seine Penisspitze wurde nicht mehr von ihr bedeckt.
Als ihr Blick an seinem Schaft haften blieb, richtete dieser sich langsam auf. Craig bemerkte es, kniff seine Augen zornig zusammen und hielt das Handtuch vor sein Geschlecht.
Endlich schaffte es Lucille, sich zu bewegen. Mit hochrotem Kopf rannte sie aus der Suite. Erst als sie bereits die Treppenstufen hinabstolperte, fiel ihr auf, dass sie sich nicht einmal entschuldigt
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