Jenseits aller Tabus
kämpfen und erst aufgab, wenn ihr Gegner am Boden lag – und dann noch einmal nachtrat.
Ein Frösteln ließ Lucille erschauern.
26. KAPITEL
Gähnend stand Craig in der Bibliothek und schaute aus dem Fenster auf den wunderschönen Sonnenuntergang, der den Himmel in ein Orangerot färbte, das ihn an Lucilles Haarfarbe erinnerte.
»An was sonst!« Erst schnaubte, dann lächelte er. Immer nur Lucille. Er konnte kaum an etwas anderes denken.
Seine Knochen fühlten sich wie mit Beton ausgegossen an, weil er die ganze Nacht kein Auge zugetan hatte. Zum einen hatte die Geschichte aus Lucilles Kindheit ihn bis ins Mark erschüttert, zum anderen wollte er sofort für sie da sein, wäre sie aus einem Albtraum erwacht.
Am meisten jedoch hatte ihn das Grübeln wach gehalten. Bis in die Morgenstunden hatte er sich mit der Frage gequält, ob er ihr beichten sollte, dass er wusste, wer sie war, nicht Kirby Lamar, sondern Lucille Dawson.
Zuerst hatte er nicht den Mut gefunden.
Schließlich bemerkt, dass sie eingeschlafen war.
Und sich am Ende feige dagegen entschieden.
Sie hatte recht behalten, er hatte seine Genugtuung nicht bekommen, indem er ihren Peiniger seiner gerechten Strafe zuführte. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, dass ihre Mutter etwas damit zu tun gehabt haben könnte. Für ihn hatte es auf der Hand gelegen, dass Richard Dawson, dieses Monster, der Übeltäter war.
Craigs Vergeltungsabsichten wurden im übertragenen Sinne die Toilette runtergespült. Langsam befürchtete er, dass das auch auf seine anderen Rachepläne zutraf.
Er hatte mehr als eine Chance gehabt, Lucille gewaltsam auf den Zahn zu fühlen – doch er hatte sich nicht dazu überwinden können. Später hatte er sich für eine sanfte Methode entschieden. Lust war eine Waffe, die viele unterschätzten. Noch schärfer und gefährlicher war die Liebe.
Wusste Lucille eigentlich, dass sie ihn schmachtend ansah? Vermutlich dachte sie, sie würde ihre Gefühle gut verstecken. Sie war eine starke Frau, keine Frage, aber auch leidenschaftlich.
Unglücklicherweise brachte er es nicht fertig, ihre Zuneigung auszunutzen und ihr die Informationen zu entlocken, die er brauchte.
»Woran das wohl liegen mag«, spottete Craig, denn er wusste es genau und fragte sich, wann der Sonnenuntergang das letzte Mal so schön gewesen war.
Er war kein schlechter Mensch, aber er kam sich dennoch schlecht vor. Es war falsch, Lucille nicht aufzuklären, dass er ihre wahre Identität kannte, doch er konnte es einfach nicht, weil diese Offenheit das zarte Band zwischen ihnen zerstören würde. Das wollte er verhindern. Auf jeden Fall! Um seinetwillen.
Vergiss deine Vendetta nicht, sprach der Zorn aus ihm, der wie ein giftiger Stachel in seinen Eingeweiden saß.
Craig zog die Vorhänge zu und wandte sich ab. Das würde er nicht, dafür spielte sie eine zu große Rolle, aber seine Vernunft bevorzugte inzwischen den Begriff »Gewissheit«. Er wollte endlich Klarheit haben über das, was geschehen war, über diese furchtbaren Ereignisse, und der Schatten, der seit dem brutalen Tod seiner Mutter über der einen Hälfte seines Herzens lag, sollte nicht auch noch die andere Hälfte verdunkeln.
Ob Craig am Ende Vergeltung üben würde, hielt er sich offen. Vorsorglich hatte er die Waffen seines Vaters behalten. Er neigte nicht zu Gewalt, aber Ted Bellamy hatte ihn dank seines harten Trainings in Kampfsport und Waffenkunde dazu befähigt, grausam sein zu können, wenn er musste.
Seit dem schicksalhaften Tag hatte Craig geglaubt, nie wieder glücklich werden zu können. Doch ausgerechnet Lucille Dawson hatte mit ihrem Strahlen den Schatten ein Stück beiseitegeschoben, sodass ein Teil seines Herzens wieder freilag.
Trotzdem schien es klüger, mit einer Aussprache zu warten.
Jetzt würde er sie erst einmal verwöhnen, um sich dafür zu entschuldigen, dass er sie genötigt hatte, ihn über die Herkunft der Narben aufzuklären. Wenn er an ihre Kindheit und ihre Ehe mit Dawson dachte, kam er zu dem Schluss, dass sie anscheinend noch nicht viel Gutes im Leben erfahren hatte, dabei verdiente sie es.
»Zu Ihren Diensten, Sir.« Splitterfasernackt schritt Lucille in die Bibliothek, kniete sich vor Craig auf den Teppichboden und schaute erwartungsvoll zu ihm auf.
Diese Frau brachte ihn um den Verstand!
Nachdem er das Personal vorzeitig heimgeschickt und Patrick gebeten hatte, in seinem Kellerapartment zu bleiben, was den Butler und alten Freund der Familie zu einem
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