Jenseits aller Vernunft
Rüffel gefallen, bediente sich selbst und sagte: »Was jetzt?«
»Zurück ins Büro in Knoxville, schätze ich. Wir fangen wieder auf Feld eins an, strecken unsere Fühler aus und schauen mal, was geschieht.«
Gentry kippte seinen Whiskey in einem Schluck hinunter. Wenn er je Ross Coleman in die Finger bekam, würde er Detektive und wen sonst noch alles zur Hölle jagen, der ihn lebendig wollte.
Er würde den Hundesohn eigenhändig umbringen.
Die Tage vergingen unglaublich langsam für Lydia und Ross, weil sie es kaum erwarten konnten, bis jeweils der Abend kam. Ross beschäftigte sich ständig mit Pferden oder der Jagd oder irgendeiner anderen Tätigkeit, die ihn daran hinderte, seinen Wagen selbst zu lenken. Und das war auch besser so, da er es nicht ertrug, stundenlang nur neben ihr zu sitzen. Jedesmal, wenn sein Arm sie streifte, bei jedem Blick, jedem flüchtigen Kuss wurde die Sehnsucht auf die Zeit nach Sonnenuntergang geweckt.
Die Abende gehörten ihnen. Sobald es die Höflichkeit erlaubte, zogen sie sich in die Abgeschiedenheit des Wagens zurück und fielen einander in die Arme. Jede Nacht kamen sie einander näher, ließen offenere Gefühle zu und verbargen ihre Leidenschaft nicht.
Lydia hielt es nicht für möglich, dass sie noch glücklicher sein könnte. Sie gab ihren Empfindungen für Ross keinen Namen, wusste aber, dass es ohne ihn für sie kein Leben gab. Sie teilten einander ihre Gefühle nicht mit Worten mit, doch davon wusste sie ohnehin nichts. Die Art, in der er sie ansah und berührte, offenbarte ihr alles, was sie wissen muss te.
Wie gewöhnlich war sie eines Nachmittags damit beschäftigt, sich erfüllt von Zufriedenheit zu waschen und für Ross’ Rückkehr das Abendessen vorzubereiten. Über dem Feuer kochte ein Topf mit Bohnen, und zum Nachtisch sollte es Himbeeren geben, die Moses für sie gesammelt hatte.
Als es draußen am Wagen klopfte, knöpfte sie ihr Kleid zu, strich sich noch einmal mit der Hand übers Haar und öffnete die Plane.
Voller Schreck prallte sie zurück, als sie in das böse, hä ss liche Gesicht ihres Stiefbruders Clancey Russell sah.
17
Lydia öffnete den Mund, um zu schreien, aber vor Grauen blieb ihre Stimme stumm. Länger brauchte Clancey nicht, um in den Wagen zu steigen und ihr den Mund zuzuhalten.
»Na, na, du wirst doch hier kein’ Aufstand machen, oder, Mrs. Coleman?« Er schwenkte ein großes Messer direkt unter ihrer Nase. »Würd’ ich mir gut überlegen, denn wer hier reinkommt, kriegt als erstes das da zwischen die Rippen. Und womöglich ist das ja dein Ehemann.«
Lydia riss die Augen weit auf, und er kicherte. »Ich sehe, du hast’s kapiert.«
Langsam senkte er die Hand, steckte das Messer allerdings nicht zurück. Lydia war zu entsetzt, um sich zu rühren. Er war das verkörperte Böse ihrer Alpträume, ein von den Toten wiederauferstandenes Monster. Von der Wunde an seinem Kopf war eine scheußliche Narbe zurückgeblieben, durch die er noch hä ss licher wirkte. Und er stank. Sie fragte sich, wie sie es zehn Jahre lang unter dem Dach der Russells ausgehalten hatte, geschweige denn...
Sie schluckte schwer. Warum lebte er überhaupt noch? Er war doch damals so unrettbar gegen den Felsen geprallt, sein Schädel war geborsten und das Blut herausgespritzt.
»Du has’ gedacht, ich war’ tot, wie?« höhnte er. »Hast dich ja gewehrt wie ’ne Wildkatze damals bei Knoxville. Ich mag Frauen mit Energie. Das weißt du bestimmt noch.« Seine Glubschaugen wanderten lüstern an ihr abwärts, und sie schüttelte sich vor Abscheu und Beklemmung.
»Aber ich bin wirklich sauer, kleine Schwester, dass du mich gegen den Felsen gestoßen hast und ich mir den Schädel gebrochen hab’. Hat wochenlang affenmäßig weh getan, und sehen konnte ich auch kaum was. Aber jetzt seh’ ich wieder klar, jawohl ja, mächtig klar.« Seine Augen maßen sie noch einmal. »Du bist ja auch ’n prima Anblick, so feingemacht...«
»Wenn mein Mann dich hier findet, bringt er dich um«, sagte sie erheblich mutiger, als sie sich fühlte. Innerlich schlotterte sie vor Angst. Angst, dass Clancey sich jetzt an ihr rächen würde, und noch größere Angst, dass Ross herausfinden könnte, was sie für diesen Mann gewesen war. Bei dem Gedanken wurde ihr speiübel.
»Dein Mann, wie? Wusste st du, dass er noch eine hat, eine Reiche?« fragte er hinterlistig.
»Victoria? Sie ist gestorben.«
»Gestorben?« wiederholte er blöde, doch dann zog er die Schultern
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