Jenseits aller Vernunft
und dachte, dass sie wohl durchaus in der Lage war, sich um sich selbst zu kümmern.
»Er ist nicht der Mann, der in jener Nacht zu Pearl ging«, wiederholte sie.
»Dann haben wir Eure Zeit lange genug in Anspruch genommen.« Majors stand auf. »Vielen Dank, dass ...«
»Allerdings war er hier.«
Selbstverständlich wollte Madame nichts erzählen von einem großen, gutaussehenden jungen Mann, der sie hatte sitzenlassen, weil er offenbar seine Frau zu sehr liebte. Aber zu schweigen von einem großen, gutaussehenden jungen Mann, der ein gesuchter Krimineller und bei Jesse James’ Bande Mitglied gewesen war, ging für Madame doch zu weit. Schließlich muss te sie an ihr Geschäft denken. Und wenn sie gezielt und vorsichtig verbreitete, dass sie, ohne es zu wissen, den bekannten Gesetzlosen Sonny Clark in ihrem Etablissement empfangen hatte, förderte das sicher den Umsatz, also...
Sinnend betrachtete sie das Porträt auf ihrem Tisch und dachte an seine Berührung, seinen feurigen grünen Blick, daran, wie sehr sie ihn begehrt hatte. Als er ihre Brüste streichelte, hatte sie zufrieden geschnurrt.
Aber es fiel ihr auch wieder ein, wie er ihre Umarmung abgewehrt und sich ihren Kuss vom Mund gewischt hatte. Wie konnte man von einer Frau erwarten, dass sie einen Mann deckte, der zurückwies, wofür andere einen hohen Preis bezahlten?
Als sie jetzt nach der Sherry-Karaffe griff, besaß sie die volle Aufmerksamkeit der beiden Männer, die sich langsam, beinah respektvoll wieder in ihre Sessel sinken ließen.
»Möchtet Ihr jetzt einen Sherry, Mr. Gentry?«
Gentry, der hart auf die Innenseite seiner Lippe biss , griff nach dem Glas. »Mhm.« Als sie das Glas nicht sofort losließ, fügte er demütig hinzu: »Bitte.«
Lydia hielt inne und holte tief Luft. Die Zeit drängte, Ross konnte jeden Augenblick zum Abendessen zurückkommen. Atlanta Langston machte einen Spaziergang mit Lee und würde ihn bald wieder bringen.
Sie wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und stemmte sich noch einmal gegen die Kommode, die sich nur ein paar Zentimeter bewegte. Beim nächsten Mal lehnte sie sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen. Diesmal hatte sie mehr Glück, die Kommode rückte von der Wand des Wagens ab.
Wenn es den Schmuck gab und er in diesem Wagen versteckt war, muss te er unter dieser Kommode sein. Jedes andere Fleckchen hatte sie schon durchwühlt. Tagelang hatte sie in jeder freien Minute herumgesucht und war schließlich sogar dazu übergegangen, die Bodenbretter zu heben, um nach möglichen Verstecken darunter zu fahnden.
Wenn sie es verhindern konnte, sollte Ross auf keinen Fall mit gestohlenem Schmuck erwischt werden, falls man ihn doch erkannte. Wenn der richtige Zeitpunkt kam, würde sie ihm erklären, wie sie von dem Schmuck erfahren hatte - falls es je nötig war. Sie glaubte immer noch nicht, dass er überhaupt davon wusste . Inzwischen würde sie alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihn vor Clancey und anderen Schnüfflern zu schützen.
Sie ließ sich auf die Knie sinken, nahm die Feile, mit der sie auch die anderen Bretter angehoben hatte, und schob sie in eine Ritze. Nach einigen Anstrengungen war das Brett so weit gelöst, dass sie es heben konnte. Der Schweiß tropfte ihr in die Augen. Mechanisch und ohne große H offnung schob sie die Hand in den Spalt.
Ihr stockte der Atem. Ihre Finger hatten etwas Weiches berührt. Sie bückte sich, schaute unter das Brett und zog das weiche Ding heraus. In ihrer Hand lag ein schwarzer Samtbeutel, ungefähr zwanzig Zentimeter lang und halb so breit, der mit einem geflochtenen Seidenband zugebunden war. Er hatte ein ziemliches Gewicht.
Sie zog das Band auf, ohne sich um den Schweiß zu kümmern, der an ihrem Hals entlang und zwischen ihre Brüste rann, dann kippte sie den Inhalt des Beutels in ihre geöffnete Hand.
Es war kaum zu fassen, was da herausrollte. Außer dem billigen Tand im Wagen des fliegenden Händlers hatte sie noch nie Schmuck gesehen und war ganz benommen vor Staunen über die in allen Farben glitzernden Steine, die Regenbogenmuster auf das Innere der Wagenplane warfen, als die Sonne daraufschien. Ringe, Ohrgehänge, Armbänder, Halsketten, Broschen, manche in so zarten Gold-und Silberfassungen, dass die Filigranarbeiten an Spinnweben erinnerten. Lydia war ihre Kostbarkeit völlig unklar, sie erfreute sich nur an der funkelnden, bunten Schönheit.
Dann schob sie den Schmuck hastig wieder in den Beutel. Wohin sollte sie jetzt damit?
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