Jenseits aller Vernunft
Mädchen hatte einen neugierigen Blick auf Lydia gewagt, da hatte Mrs. Watkins sie zur Strafe kräftig in den Arm gezwickt. Wenn der Mann, der sie gerade angesprochen hatte, sich nun lustig über sie machen wollte, sollte er ihr lieber gestohlen bleiben.
Lydia, die ihre Angst nicht zeigen wollte, hob herausfordernd den Blick. Der Mann war jung, ein paar Jahre jünger als Mr. Coleman. Er zog einen breitrandigen Hut vom Kopf und weichgelocktes, braunes Haar kam darunter zum Vorschein. Unter seinem weißen Anzug trug er eine blaue Weste, aus deren Tasche eine goldene Uhrkette hing. Traurige blaue Augen schauten sie aus einem, bis auf die leicht fleckig geröteten Wangen, bleichen Gesicht freundlich an.
Lydia sagte nichts, sondern betrachtete nur überrascht den sie interessiert aber höflich musternden jungen Mann. »Dürfen wir uns vorstellen, Miss Lydia? Winston Hill, zu Euren Diensten. Und das hier ist Moses.«
Er deutete auf einen hochgewachsenen, stattlichen Schwarzen neben sich, der einen steifen dunklen Anzug mit schwarzer Krawatte trug. Sein Haar war schon von feinen weißen Strähnen durchzogen, aber sein Gesicht wirkte durch seine Glätte auffallend jugendlich.
Lydia war von den beiden und ihren Manieren so beeindruckt, dass sie das erste sagte, was ihr in den Sinn kam. »Ihr kennt meinen Namen bereits?«
Winston Hill lächelte. »Es tut mir leid, dass in dieser kleinen Gemeinschaft so getratscht wird, aber alle haben in der Tat von Euch und Eurer bemerkenswerten Schönheit gehört. Gerne bestätige ich, dass die Gerüchte diesmal nicht übertrieben haben.«
Sie errötete, denn ein solches Kompliment zu ihrem Äußeren war ihr noch nie gemacht worden. »Es freut mich, Euch kennenzulernen«, sagte sie.
»Mich ebenfalls. Ihr kümmert Euch um Mr. Colemans kleinen Jungen. Das ist eine sehr lobenswerte Tätigkeit angesichts Eures eigenen erst so kurz zurückliegenden Verlustes.«
Sie hatte noch nie jemanden so reden hören. Es klang hübsch. Die Worte schienen weich von seinen wohlgeformten Lippen zu tropfen, wie Honig. »Danke sehr. Aber es kostet mich keinerlei Mühe. Er ist ein prachtvolles Baby.«
»Ohne jeden Zweifel. Ich habe immer die Schönheit und den Mut seiner Mutter bewundert. Ganz zu schweigen von der Kühnheit seines Vaters.« Er hob ein leinenes Taschentuch an die Lippen und hustete mehrmals, was ihn sichtlich irritierte. »Moses und ich wünschen Euch jetzt einen angenehmen Abend. Falls wir Euch je irgendwie behilflich sein können, bitte ich darum, dass Ihr es mich wissen lass t.«
Verwirrt durch seine verschnörkelte Ausdrucksweise stammelte Lydia nur: »Danke, das werde ich tun.«
»Das hoffe ich sehr.« Er setzte ein gewinnendes Lächeln auf. »Oh, guten Abend, Mr. Coleman.«
Lydia drehte sich um und sah Ross am Ende des Wagens hinter sich stehen. Er wirkte in der gleichen Weise hart und unnachgiebig, wie Mr. Hill weich und sanft schien. Sein Kinn hob sich zu einem knappen Gruß. »Mr. Hill, Moses!«
»Wir halten Euch vom Abendessen ab, Miss Lydia.« Noch bevor sie ahnte, was er im Sinn hatte, beugte er sich vor, griff nach ihrer Hand und hob sie zum Mund. Seine Lippen streiften ihren Handrücken. Sie starrte ihn beklommen an, als er den Hut wieder aufsetzte, ihr zunickte und mit Moses davonschritt.
Sie sah auf die Hand hinunter, die er geküßt hatte. Unangenehm berührt durch die Geste, wischte sie sie mit dem Ärmel ab, während sie über die Schulter Mr. Coleman ansah. Sein Gesicht wirkte dunkel und bedrohlich wie eine Gewitterwolke. Wenn er so finster schaute, war seine Unterlippe unter dem Schnurrbart kaum zu sehen.
»Das Abendessen ist fertig«, sagte sie mit nervös belegter Stimme, wandte sich wieder dem Feuer zu, nahm einen der Porzellanteller, die Ma für sie bereitgestellt hatte und schöpfte eine ordentliche Portion vom Eintopf darauf. Als sie sich wieder zu ihm umdrehte, hielt sie ihm den Teller entgegen.
Er griff nicht danach. Statt dessen lagen seine Arme steif an seiner Seite und seine Hände öffneten und schlossen sich, als würde er am liebsten zuschlagen. Seine Zähne hatte er so fest zusammengebissen, dass sie knirschten. In der Abenddämmerung wirkte sein Gesicht noch dunkler und wütender.
Die grünen Augen leuchteten im Zwielicht, und Lydia sah, wie sein Blick von ihrem Gesicht zu den Blumen an ihrem Busen fiel. Weil sie aufgeregt war und spürbar Angst vor ihm hatte, atmete sie heftig. Ihr Brüste bebten unter dem Stoff des Kleides, und die Blumen auf
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