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Jenseits aller Vernunft

Jenseits aller Vernunft

Titel: Jenseits aller Vernunft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Brown
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trank. Vor seiner Geburt hatte er bestimmt zu wenig Nahrung bekommen, denn seit seinem Erdendasein war er unersättlich. Er saugte geräuschvoll, trommelte mit seiner kleinen Faust immer wieder auf ihren Busen und strampelte dann und wann vergnügt.
    Lydia empfand eine fast trotzige Freude dabei, ihn ernähren zu können, was der Frau mit der sahnefarbenen Haut und dem maisgoldenen Haar offensichtlich nicht gelungen war. Victoria Coleman hatte alle als die ideale Gattin beeindruckt. Jedesmal, wenn sie ihren Namen hörte, litt Lydias Selbstwertgefühl. Doch Lee würde sie lieben. Sie, nicht seine leibliche Mutter.
    Sie wünschte, sie hätte den Mut, Lees selbstgerechtem Vater das ins Gesicht zu sagen. Er hatte sie mit einem schändlichen Wort bezeichnet. Tränen stiegen ihr in die Augen, doch sie gab ihnen nicht nach. Sie würde nicht weinen. Die Leute irrten sich. Sie war nicht so!
    Sie hatte sich gegen das, was mit ihr geschah, nicht wehren können, auch wenn sie, bei Gott, immer wieder einen Anlauf genommen hatte. Wie oft hatte sie gekämpft bis zur Erschöpfung und war erst wieder zu sich gekommen, als sie voller blauer Flecke, wundgeschlagen und mi ss braucht trotz allen Widerstands in einer Ecke lag. Manchmal hatte sie gewonnen. Nur allzu häufig war sie unterlegen, und...
    Sie schlo ss die Augen und schauderte in Erinnerung an die Schmach und Erniedrigung. Bei jenen Ereignissen wäre sie am liebsten gestorben, aber wenn sie sich umgebracht hätte, wäre niemand mehr zur Versorgung ihrer Mutter dagewesen. Also hatte sie weitergelebt und sich weiter mi ss brauchen lassen müssen, bis Mama starb und sie endlich frei war, davonzulaufen.
    Wie konnte etwas so Süßes und Unschuldiges wie Lee aus einer so hä ss lichen, gewaltsamen Handlung entstehen? Sie streichelte sein Köpfchen und fragte sich, ob Mr. Coleman Victoria wohl auch bei der Zeugung weh getan hatte, so wie es Lydia ergangen war. Irgendwie konnte sie ihn sich nicht vorstellen, wie er sich brünstig abreagierte und grunzte so wie Clancey. Genausowenig konnte sie sich vorstellen, dass er Victoria weh getan hatte, die er wirklich verehrte, falls Anabeth ihre Ehe richtig schilderte.
    Die Segeltuchklappe wurde zurückgeschlagen und sie hörte seinen schweren Tritt, als er in den Wagen stieg. Sie wandte heftig den Kopf, so dass ihr Haar flog und schließlich ihren nackten Rücken und die Schultern bedeckte wie ein glänzender Umhang.
    Was immer Ross hatte sagen wollen, blieb ihm jetzt in der Kehle stecken, sein Mund öffnete sich nur einmal und fiel dann wieder zu. Lydia saß mit dem Rücken zur Öffnung des Wagens. Das Kleid, über das er sich so geärgert hatte, war von den Schultern gerutscht und lag bauschig um ihre Taille. Ihre Augen sahen ihn groß und fragend an, ihre Lippen waren feucht und leicht geöffnet, und sie sah ihn über ihre aprikosenfarbene Schulter und eine Wolke roter Locken an.
    »Was tut Ihr?« Seine Stimme klang so rauh, als wollten ihm seine Stimmbänder versagen.
    »Lee trinkt seine letzte Abendmahlzeit«, sagte sie mit jener leisen, gedämpften Stimme, die ihn so ärgerte. Hatte sie denn keine Spur von Schamgefühl? Warum schimpfte sie nicht, weil er einfach so hereinkam, ohne vorher anzuklopfen? Doch das hätte ihn natürlich noch wütender gemacht, schließlich war das hier sein Wagen, heiliges Kanonenrohr!
    Sie hatte wohl den Zorn in seinem Blick gesehen, denn sie wandte den Kopf und senkte den Blick auf das Baby an ihrer Brust. Ross’ Körper wurde ganz heiß, und einen Moment lang konnte er nicht mehr klar sehen. Er blinzelte heftig, als sie ihn wieder ansah. »Wolltet Ihr irgend etwas?«
    Unbehaglich trat er von einem Fuß auf den anderen und wünschte, er mü ss te sich nicht bücken. »Ich...« Er hatte vorgehabt zu sagen, dass er sich entschuldigen wollte, aber so weit konnte er nun auch wieder nicht gehen. »Es gibt etwas zu besprechen.« So. Das klang einigermaßen beeindruckend.
    Sie sagte nichts, und das ärgerte ihn fast genauso, wie wenn sie mit dieser leisen Stimme sprach, die ihn fast körperlich zu berühren schien. Ihre Augen waren fest auf ihn gerichtet. Warum, um Himmels willen, bedeckte sie sich nicht? Auch wenn er nur ihren Rücken sehen konnte, ging seine Phantasie mit ihm durch. Victoria hätte niemals ihr Kind in Anwesenheit eines anderen gestillt. Er schob den Gedanken beiseite. Wenn er an Victoria dachte, würde er kein Wort herausbringen.
    »Ich danke Euch«, meinte er knapp.
    Sie starrte ihn eine ganze

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