Jenseits der Alpen - Kriminalroman
Bartz im Pustertal. Und jetzt Anfang 2000 diese Selma Ruspanti in München, auch an der Autobahn. Das erweckte beinahe den Anschein, als hätte sich ein einzelner Täter über die Autobahn nach Norden vorgearbeitet. Hatte sich Ottakrings Vorsicht, sich über Kapitalverbrechen quasi in der Nachbarschaft zu informieren, am Ende bezahlt gemacht? Sollte seine Marotte bald Früchte tragen?
Er führte sich noch einmal die Leiche, wie er sie auf dem Parkplatz gefunden hatte, und die Tatortfotos vor Augen. Auf diese Frau war mit unglaublicher Vehemenz eingeprügelt worden. Auch die anderen beiden Opfer waren brutal ums Leben gebracht worden. Wenn nun die drei Kapitaldelikte – rein hypothetisch – tatsächlich zusammenhingen, könnte er eine klare Vorstellung vom Täter und der Dynamik seiner Verbrechen bekommen.
»Herr Ottakring?«
Wallers Stimme riss ihn aus seinem Tagtraum. Offenbar hatte man ihn angesprochen – ohne Erfolg.
»Entschuldigen Sie«, sagte er. »Ich war noch in Gedanken.«
* * *
»Sie wollen den Chef zurückverlegen«, brachte Agnes vor. »Allein schon aus medizinischen Gründen. Eine Uniklinik München oder ein Klinikum Rechts der Isar ist doch allemal besser als das Provinzkrankenhaus von Olbia, sagen sie. Wahrscheinlich zu Recht. Man traut dem Frieden nicht.«
»Ja, aber Olbia widerspricht. Er vertrage den Transport noch nicht, ist das Argument der Ärzte. Und das Wesentliche: Ottakring möchte selbst hierbleiben, hat er vorhin noch einmal betont. Nicht zwengs der Medizin, sondern weil er näher an unseren Ermittlungen dran ist. Ich glaube, er würde am liebsten sein Bett wegschmeißen, die Beine unter den Arm nehmen und die Ermittlung wieder selbst führen.«
Agnes und Waller wohnten beide im selben Albergo , er im Parterre, sie auf der zweiten Etage. Doch als ihr Hauptquartier hatten sie das Grappa gewählt. Dort gab es ein kleines Nebenzimmer, das Francesca bei Bedarf für sie reservieren wollte. Der Bedarf war eingetreten, als sie zum wiederholten Mal Ottakring im Krankenhaus besucht hatten und das bisherige Aufklärungsergebnis festschreiben wollten.
»Also«, begann Waller und deutete mit der Fingerspitze auf den Laptop, den Agnes mitgebracht hatte. Er legte den dicken Wintermantel ab, der ihn seit dem Münchner Flughafen pausenlos begleitet hatte. »Also dieser Nunzio, das ist ein seltener Vogel. Geht aus dem Haus, und als er wieder heimkommt, ist seine junge Frau weg. Und sie bleibt weg, das merkt er sehr bald. Er unternimmt nichts dagegen. Von Ende Dezember bis heute unternimmt er nichts. Keine Vermisstenanzeige, keine Suche auf eigene Faust, nichts. Wenn das nicht ein Scheidungsgrund ist.«
»… Scheidungsgrund ist«, schrieb Agnes. »Soll ich das auch festhalten, das mit der Zeugenaussage aus der Nachbarwohnung?«
»Dass die beiden vorher gestritten haben? Die Zeugenaussagen waren eindeutig. Freilich, hinein damit ins Protokoll.«
Agnes ließ die Fingerchen flitzen.
»Und exakt am 30. Dezember nimmt sie die Fähre nach Genua. Sie kauft ein Ticket nur für eine Hinfahrt mit der Moby Line. Zwei Stewards der Fähre haben sie auf dem Foto wiedererkannt. Der eine spricht von einem roten Rucksack, den sie dabeihat, der andere von einer Reisetasche, vermutlich grau-blau oder grün-weiß gemustert. In München am Parkplatz wird sie dann ohne jedes Gepäck aufgefunden.«
Agnes seufzte und schaute auf. »Tja«, sagte sie leise, »da ist eine ganze Menge passiert zwischen Olbia und München am 2. Januar.«
Waller nickte knapp und grunzte unbestimmt. »Der Weg vom blühenden Leben zum grässlichen Tod.«
»Noch einen Kaffee?« Francesca lugte zur halb geöffneten Tür herein. »Oder einfach eine Flasche Wasser?«
Agnes winkte ab. Francesca schloss die Tür.
Waller ergriff wieder das Wort. »Zwischen halb acht und acht am Silvestertag sitzt unsere Selma nach der Überfahrt quietschlebendig und anscheinend guter Laune in einer Bar im Hafen von Genua und schlürft Kaffee. Auch hier hat sie ihr Gepäck dabei.«
Agnes blickte auf und badete ihre Wangen in einem Sonnenstrahl, der durch die Ritze der Jalousette am Fenster blitzte. »Und auf welchem Weg sie von dort nach München kam, Herr Kommissar, das herauszufinden wird jetzt Ihre Aufgabe sein. Herzlichen Glückwunsch!«
* * *
Es dauerte an diesem Abend lange, bis Joe Ottakring einschlafen konnte. Er rief Lola an und wünschte ihr eine gute Nacht. Die Schwester hielt ihm das Telefon ans Ohr.
»Sobald ich kann, werde ich
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