Jenseits der Eisenberge (German Edition)
wahrhaftig, als tatsächliche Gefahr wahrzunehmen, obwohl eine panische Stimme in seinem Hinterkopf unentwegt brüllte, er müsse weglaufen, laufen, jetzt sofort! Es muss einst viele Drachen gegeben haben … man sieht sie erst, wenn sie aus den Schatten hervorkommen … Schatten und Dunkelheit … wie Dämonen der Unterwelt …
Er bemerkte, wie Nikor neben ihm bewusstlos zu Boden stürzte und Erek sich wimmernd an der Tunnelwand entlang tastete. Lark konnte er nicht sehen, der Blick auf den Priester wurde von dem gewaltigen Leib des Drachens – falls es denn einer war – versperrt. Dieses Geschöpf war so groß! Allein sein Schädel war länger als Lys’ gesamter Körper.
Das ist es, was Lark fürchtete, doch warum glaubte er, wir wären sicher? So groß … Wie es riecht, wie nasses Leder … Der Tunnel ist zu klein für so ein riesiges Biest!
Lys spürte, wie ihm die Knie weich wurden, als der Drache den Kopf noch tiefer senkte. Reptilienaugen musterten ihn unbewegt. Lys wich langsam zurück, bis er an die Felswand stieß. Flucht war aussichtslos. Kampf ebenfalls.
Er suchte Halt mit den Händen und fand keinen, rutschte unaufhaltsam mit ausgebreiteten Armen zu Boden. Obwohl er das Gefühl hatte, es wäre besser nicht in diese Augen zu blicken, um die Bestie nicht zu reizen, hätte er nicht wegsehen können, um keinen Preis der Welt. Der Drache hielt ihn in seinem Bann. „Möglichst nicht bewegen und auf keinen Fall schreien“, hörte Lys Lark wispern. Der Kopf des Drachen schnellte herum, in die Richtung des Priesters; dann pendelte er wieder zurück, kam näher und näher, bis Lys den merkwürdig kühlen Atem der Bestie auf der Haut spürte. Er stöhnte vor Angst, presste sich gegen die Wand in seinem Rücken. Keuchte abgehackt, als der Drache ihm mit dem Schädel gegen die Brust stieß. Harte, kalte Schuppen berührten sein Gesicht, die nadelspitzen Reißzähne streiften seine Wangen. Lys erstickte fast, als der Drache einatmete und alle Luft zu rauben schien, die es im Tunnel gab.
„Die Kette, rasch, die Kette!“, zischte Lark aus dem Nirgendwo jenseits des Drachens, der Lys’ gesamte Welt erfüllte. Wie von Schnüren gezogen bewegte sich sein Arm, griff nach der Kette und zog sie über sein Hemd. Der Schwanz der riesenhaften Kreatur schlug krachend zu Boden. Er grollte, so laut, dass Lys unwillentlich aufschrie. Der Schädel wich ein wenig zurück, die gelblich leuchtenden Augen fixierten den silbernen Anhänger. Etwas streifte Lys’ Bewusstsein, etwas von solcher Macht und Fremdartigkeit, dass es ihm fast den Verstand raubte. Der Drache schnaubte, wodurch Lys wie von einer unsichtbaren Faust an die Felswand gepresst wurde. Eine riesige, krallenbewehrte Klaue näherte sich Lys’ zitternder Hand. Berührte das Amulett. Die Kreatur brüllte auf; und plötzlich war sie im Schatten verschwunden, so lautlos und schnell, wie sie gekommen war.
Lange Zeit war nichts zu hören, außer dem Keuchen der zu Tode erschrockenen Männer. Dann kam Nikor wieder zu sich, blickte sich wie trunken um und fragte: „War das … was war das nur?“
„Nichts“, murmelte Erek schwach und schüttelte den Kopf. „Da war nur … ein Schatten, sonst nichts. Sonst … nichts.“ Er kicherte leise, starrte dann hektisch in die Dunkelheit hinter Larks Fackellicht.
„Wir müssen weiter“, flüsterte der Priester und kniete neben Lys nieder. „Seid Ihr verletzt?“
Lys schüttelte stumm den Kopf.
„Er hat Euer Amulett gespürt, es wird ihn aus seinem Schlaf gerissen haben. Womöglich hielt er Euch für einen Priester – für gewöhnlich tötet er jeden Nicht-Geweihten, den er hier findet. Eine Ehre, dass er sich uns überhaupt gezeigt hat. Seid unbesorgt, er hat uns gestattet weiterzugehen und nichts wird uns auf diesem Weg jetzt noch gefährlich werden. Aber wir dürfen nicht zu lange hier verweilen. Eure Gefährten müssen so rasch wie möglich ans Licht.“
„Gibt es weitere Schattenfr… Wesen wie ihn?“, fragte Lys wie betäubt und erhob sich langsam.
„Ich weiß es nicht. Er ist der Wächter dieser Berge und erlaubt nur uns Geweihten und jenen, denen wir Schutz bieten, die Pfade zu nutzen. Warum das so ist, ob es noch mehr wie ihn gibt, was genau er ist, darauf haben wir keine Antworten.“
„Lasst uns verschwinden, bevor er es sich anders überlegt“, wisperte Nikor. Und das war das letzte Wort, das gesprochen wurde, bis sie, viele Stunden später, Tageslicht vor sich auftauchen sahen.
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