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Jenseits der Finsterbach-Brücke

Jenseits der Finsterbach-Brücke

Titel: Jenseits der Finsterbach-Brücke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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diese Geschichten«, begann ich. »Kennst du eine Geschichte, in der jemand Visitenkarten aus weißer Seide hinterlässt?«
    Flint überlegte. Oder tat er nur so? »Nein«, sagte er schließlich. »Sollte ich das?«
    »Vielleicht«, antwortete ich.
    Flint sah aufmerksam von mir zu Joern, der nie viel sagte, wenn Erwachsene dabei waren. »Dann müsst ihr mir die Geschichte erzählen«, meinte er schließlich.
    »Das werden wir tun«, sagte ich. »Aber erst wenn wir ihr Ende kennen.«
    An diesem Abend schlief Joern nicht bei Frentje, sondern bei mir. Wir legten eine Matratze auf den Boden und Flintsagte: »Dass ihr mir nicht bis morgen früh durchquatscht.« Genau so, wie ich mir das immer vorgestellt hatte, als ich noch keinen Freund gehabt hatte, der bei mir übernachten konnte.
    »In meinem Kopf sind eine Million wirrer Dinge«, sagte ich, als wir im Dunkeln nebeneinanderlagen.
    Am Fußende meines Bettes schnurrte die Katze, die vielleicht alles wusste. Am Fußende von Joerns Matratze schnarchte Flop.
    »Der Weiße Ritter und der Kjerk und der Brief«, zählte ich auf.
    »Das sind nur drei«, erwiderte Joern. »Eine sehr kleine Million, meinst du nicht? In meinem Kopf sind noch ein paar mehr Sachen. Ich frage mich zum Beispiel, was sie zu Hause gerade tun.«
    »Ich dachte, du bist jetzt hier zu Hause«, sagte ich, »hier bei mir.«
    »Ja«, sagte Joern sehr leise. »Es ist erst ein Tag vergangen, seit ich weggegangen bin, und es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Ich hoffe, Mama sitzt nicht wieder am Küchentisch und wartet die ganze Nacht auf mich. Es ist unendlich traurig, daran zu denken.«
    »Wo ist eigentlich dein Vater?«, fragte ich.
    »Keine Ahnung«, antwortete Joern. »Ich hab ihn nie kennengelernt. Onnar sagt, er wäre ein Blatt im Wind gewesen. Er war mal da und mal weg, und kurz bevor ich geboren wurde, ist er endgültig verschwunden. Onnar mochte ihn nicht. Ich weiß nicht mal, ob Mama ihn mochte. Ich glaube,sie hat ihn bloß geheiratet, weil Onnar damals unterwegs war. Vermutlich ist sie ganz froh, dass er weg ist.«
    »Ist das nicht auch unendlich traurig?«, fragte ich.
    »Nein«, sagte Joern. »In meiner Welt sind die Dinge so. Keiner in meiner Klasse hat Eltern, die zusammenwohnen. Hier, auf dem Norderhof, ist es anders, oder?«
    »Ja«, sagte ich.
    Joern schwieg eine Weile. »Aber wenn hier alle Eltern zusammenwohnen und alles gut ist …«, begann er schließlich.
    »Frag ruhig«, sagte ich.
    »Okay«, sagte Joern. »Wo ist deine Mutter?«
    »Tot«, antwortete ich. »Sie ist gestorben, als ich geboren wurde. Flint hat es mir erzählt. Ihr Grab liegt auf der Lichtung, die ich dir an unserem ersten Tag gezeigt habe. Die am Flussufer, mit den Eichen und den Trauerweiden. Erinnerst du dich an die junge Linde, die dort steht, mitten auf der Wiese? Flint hat sie damals für meine Mutter gepflanzt. Sie war wunderschön, meine Mutter. Wie oft habe ich mir gewünscht, sie würde irgendwo am Küchentisch sitzen und auf mich warten.«
    Und auf einmal erschien mir die Tatsache, dass meine Mutter nie an einem Küchentisch auf mich warten würde, viel, viel trauriger als alles andere auf der Welt. Die Luft im Zimmer war schwer von all der Traurigkeit und vielleicht wären wir daran erstickt, hätte es nicht in diesem Augenblick an die Balkontür geklopft.
    Das jagte mir einen solchen Schrecken ein, dass die Traurigkeit zerplatzte wie eine Blase. Ich stand vorsichtig aufund tappte zur Tür. Draußen auf dem Balkon stand ein Schatten. Ein Geist, dachte ich, doch als der Schatten näher kam, war es Almut.
    Sie schüttelte sich und schloss die Tür schnell hinter sich. »Brrr«, sagte sie. »Schön kalt da draußen um diese Zeit. Rückt mal ein Stück, ich brauch einen Platz zum Aufwärmen.«
    Ich kletterte zurück in mein Bett und rückte ein Stück. »Ich dachte, du bist ein Geist«, sagte ich. »Wie bist du hier raufgekommen?«
    »An den Ranken hochgeklettert«, sagte Almut. »Schön, dass ich euch ein bisschen erschreckt habe. Weißt du noch, Lasse, wie ich einmal deinen Vater erschreckt habe? Ich bin die Feuerleiter außen am Turm hochgestiegen und habe an sein Fenster geklopft. Er ist fast von seinem Schreibtischstuhl gefallen, als er das gehört hat. Ich wette, die Feuerleiter hatte er ganz vergessen. Schließlich sieht man sie kaum zwischen dem Efeu. Er hat sich herrlich aufgeregt. Von wegen, man soll ihn tagsüber nur in Notfällen stören und alles. Es war ein furchtbarer Spaß. Schade, dass du nicht

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