Jenseits der Finsternis
Daten-Schutz-Anwälte haben uns weiß Gott jahrelang nur Ärger gemacht. Wenn ich nur an die Straßenkämpfe Ende der achtziger Jahre denke … nicht einmal Verkehrsampeln und harmlose Normaluhren wollten sie stehenlassen! Wenn wir uns damals nicht rechtzeitig in dieser Stadt eingeigelt hätten … ich weiß nicht, ob es heute überhaupt noch diese letzte, wunderbare Datenbank gäbe …«
»Der einzelne ist immer eine Minderheit«, sagte sie philosophisch. »Vielleicht hatten sie nur Angst davor, daß sie zur steuerbaren Masse werden sollten.«
»Aber es ist doch positiv!« rief er. »Noch nie zuvor konnte auf die Bedürfnisse des Individuums so viel Rücksicht genommen werden! Milliarden Daten sind doch kein Selbstzweck, sondern das Erbe unserer Erfahrung und Kultur für die Menschen und nicht gegen sie!«
»Armands gesammelte Werte«, lächelte sie. »Und wer sich nicht in Wertfaktoren berechnen lassen will, ist ab morgen einfach nicht mehr da … ein namenloses Individuum … weniger als nichts …«
Es war, als würde ein Hauch von Traurigkeit in ihrer Stimme mitklingen. So hatte sie noch nie mit ihm gesprochen.
»Wir werden uns wohl nicht mehr sehen«, sagte sie leise. »Um Mitternacht wird von BEATE auf RENATE umgeschaltet. Viel Glück, Armand!«
Der Präsident wollte antworten. Doch da verlosch das Monitorbild mit einem sanften, bunten Glühen.
Es war längst dunkel, als Armand von Echterdingk auch in seiner abgeschirmten Penthousewohnung die letzten privaten Dinge zum Jahresabschluß geregelt hatte.
In Abständen von dreißig Minuten hatte er versucht, über seinen geheimen Kodeschlüssel mit dem UN-Archiv tief unterhalb des Reichstagsgebäudes in Kontakt zu treten. Offiziell begann die Sperre für ihn selbst erst ab Mitternacht. Dennoch war es ihm nicht mehr gelungen, mit BEATE zu sprechen.
Die Berliner Elektronik Auskunft – Typ Eigenbedarf war nur eine Art Feldversuch gewesen – eine Vorstufe für RENATE, die Reformierte Elektronik Norm Auskunft – Typ Eigenbedarf.
Zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit sollte eine zentrale Datenbank die gesamte Arbeit von Politikern, Archivaren, Wirtschaftsmanagern und Verwaltungsbeamten übernehmen – mit wirklich allen Daten vom Nordkap bis Sizilien.
Das war noch revolutionärer als die Landung des ersten Menschen auf dem Mond!
Armand ging in seine geschmackvoll eingerichtete Bibliothek. Er wußte, daß er in den nächsten Tagen seine Bücher abgeben mußte. Sie waren nicht mehr zugelassen, in gewisser Weise bedauerte er den Verlust, doch dann sagte er sich, daß er alle Bücher, alle Daten und alle für ihn wichtigen Informationen in Zukunft auch ausgedruckt aus seinem privaten Terminal bekommen konnte. Das gleiche galt für Filme, Vorträge und Reportagen.
Er öffnete einen von innen beleuchteten Wandschrank, nahm eine Flasche alten Cognac heraus und goß sich einen Fingerbreit in einen bauchigen Schwenker.
Während er den Cognac mit der Handfläche anwärmte, kostete er in Erinnerung noch einmal die Informationen über die Anfänge. Wie lange reichte sie eigentlich zurück, diese eigentümliche Neigung des Menschen, alles zu zählen, zu analysieren und abzurechnen?
Er dachte an magische Chiffren auf frühen Amuletten, an Keilschriftzeichen, Papyrusrollen und an die großartige Erfindung der Null. Irgendwann in der Vergangenheit mußten die Menschen ihre Fähigkeit verloren haben, Erinnerungen in sich selbst zu speichern. War das vielleicht die Vertreibung aus dem Paradies gewesen?
Er lächelte und nippte an seinem Cognac.
Beinahe unmerklich war aus dem Versuch, Informationen zu registrieren, ein Instrument der Macht geworden. Nicht Wissen an sich, sondern das Wissen über andere …
Armand erinnerte sich an Kaiser Augustus und an seine erste große Volkszählung, an die Gottkönige der Inkas und an die unbekannten Medizinmänner, die aus ihren Informationen Zauberkräfte und Religionen gemacht hatten.
Einer der ersten Männer, die System in Datensammlungen gebracht hatten, war der unvergleichliche Armand Jean du Plessis gewesen – sein Namensvetter, besser bekannt als Kardinal Richelieu …
Im Grunde waren auch BEATE und RENATE nach dem »Dossier-Prinzip« des Kardinals aufgebaut. Für die Statistik war der einzelne nicht wichtig, aber für Trends und weitreichende Entscheidungen konnten schon weniger als hundert kleine Hinweise Frühwarnsignale sein: Ein Ansteigen des Glöck -Konsums am Nordkap, die Nachbestellung von
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