Jenseits der Finsternis
das neue Jahrtausend ein.
Und es begann mit nichts …
M ICHAEL N AGULA Japaner in Düsseldorf
Gefolgt von Colette schritt er über den weißen Marmor der Vorhalle. Sein Blick streifte die ausliegende Kondolenzliste ohne jede Spur von Anteilnahme. Ein dumpfes Rumoren war in ihm, der Ausdruck nie ersterbender Regsamkeit der Gedanken. Es erfüllte ihn mit umfassender Taubheit. Er schüttelte den Kopf und blieb stehen.
Vor ihm war der Leichnam aufgebahrt. Ein Rosenkranz umgab die Stirn wie Lorbeer den wahnsinnigen Nero. Er betrachtete das Gesicht des Freundes, seine modische Kleidung. Wie auf der Suche nach etwas tastete sein Blick über die Blässe der Haut. Er griff in die Tasche, holte eine Handvoll Dornen hervor und ließ sie auf den Freund herabfallen.
Colette rührte sich nicht. Ihr war eigenartig zumute. Sie stand ganz unter dem Eindruck der seltsamen Atmosphäre, die in dieser Halle herrschte. Ein Frösteln durchlief sie, sobald sie den Rosenkranz und die Dornen ansah. Der Tote bedeutete ihr nichts mehr.
»Laß uns gehen«, flüsterte sie.
Es dauerte eine Weile, bis er sich umdrehte. Gefolgt von Colette schritt er über den weißen Marmor zum Portal zurück. Ein Bildschirm hing dort an der Wand, auf dessen unterer Leiste Made in Japan stand. Flirrende Buchstabenreihen informierten über den Ablauf der Trauerfeier.
Nur wenige Tage waren seit dem Tod des Freundes vergangen. Seine Worte klangen ihm noch in den Ohren. Über den Sender, das unfreie Leben in dieser Stadt. Er hatte ihm nicht geglaubt. Jetzt wollte er sie selbst in die Welt hinausschreien, die Wahrheit über die verdeckte Herrschaft, das Treiben der grauen Eminenz. Doch wie?
»Colette«, sagte er. »Wir werden uns trennen.«
Sie starrte ihn an.
»Colette«, sagte er mit Nachdruck. »Es ist vorbei. Wir sind zu verschieden. Frage mich nicht, warum. Es hat keinen Sinn, daß wir uns länger quälen.«
Innerlich mußte er darüber lachen. Er sah ihr Gesicht, auf dem sich Unglauben mit Verständnislosigkeit mischte, und wünschte, sie würde weinen. Wenigstens das.
»Du verstehst doch?« sagte er, nur um etwas zu sagen. »Es hat keinen Sinn mehr.«
Ärgerlich zog er sie vom Portal fort auf die Straße, in ihren Rücken der flackernde Schein des Bildschirms. Irgendwo maunzte eine Katze. Er schwieg, Colette schwieg.
Es war vorbei.
1.
Er war fasziniert. Jedesmal war er fasziniert, wenn er den gewandten Äußerungen Jochen Heimfurts lauschte. Einen besseren Talkmaster hatte es nie gegeben. Er war vertrauenerweckend, charmant, gutaussehend, ganz der Mann, den sich jede Mutter zum Schwiegersohn und jede Frau zum Ehemann wünschte. Dabei war es einerlei, was er sagte. Es interessierte das Publikum nicht, zwischen den Zeilen zu lesen. Gerade das machte seinen Wert für die Sendeanstalt aus.
Klaus Emmerich lehnte sich im Sessel zurück und betrachtete das vor ihm liegende Schaltpult. Vier Kameras fingen den Showstar von seinen vorteilhaftesten Seiten ein, und es war an ihm, ihn für die Zuschauer ins beste Bild zu rücken. Es war ein qualvoller Job. Aber er mußte getan werden, um den Bürgern draußen im Lande etwas von der täglichen Langeweile zu nehmen. Ein Könner wie er war wie kaum jemand sonst dazu in der Lage.
Emmerich drückte eine Taste, und auf dem Kontrollschirm wechselte das Bild. Heimfurt war jetzt in der Totalen zu sehen, der Blick frei auf seine graumelierten Schläfen und den aparten Zug um seine Mundwinkel. Noch einmal brachte er seine Freude zum Ausdruck, heute abend gerade diesen Gast interviewt haben zu dürfen, dann brandete der Schlußapplaus auf. Emmerichs Finger fuhren übers Schaltpult, und die Titelmelodie ertönte. Gestorben, dachte er.
Emmerich erhob sich. Ihm lag nicht viel daran, ins Studio hinüberzugehen, wo Heimfurt nun mit dem Team den traditionellen Umtrunk vornehmen würde. Die Zeit, da er in seinem Beruf aufgegangen war, war vorbei. Ihn störten nicht die Auflagen, die man ihm machte. Er teilte einfach nicht mehr den propagandistischen Hintergrund seiner Tätigkeit. Die Politik der Sendeanstalt stand ganz unter dem Eindruck der ständig wachsenden Entmündigung des Publikums.
Er verließ den Regieraum und machte sich auf den Weg zur Kantine. Es war nicht weit bis zu dem luxuriösen Raum, der in seiner Behaglichkeit zu so etwas wie Emmerichs Fluchtburg geworden war. Er setzte sich auf einen der metallenen Rohrsessel und sah sich um. Am Tisch gegenüber entdeckte er Harald, einen der
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