Jenseits Der Schatten
Gott sei Dank waren es nicht Uly oder Elene, und dann verfluchte er sich für den Gedanken. Wer war er, ein Leben gegen ein anderes abzuwägen und dankbar dafür zu sein, dass einer starb, einfach weil er den Betreffenden weniger geliebt hatte? Er hatte sie getötet. Graf Drake hatte einen Gossendreck aufgenommen und ihn zu einem Teil seiner Familie gemacht. Und Kylar hatte mit seiner Unachtsamkeit die Drakes ermordet, mit seiner Arroganz. Jedes Geschenk, das Graf Drake Kylar gemacht hatte, hatte er ihm mit Trauer vergolten.
»Und für meine Gotteslästerung? Als ich Geld nahm, um getötet zu werden?«
»Jarl.«
Kylar schrie. Er zerriss seinen Umhang. Er hämmerte mit den Fäusten auf den Boden, aber hier gab es keinen Schmerz, keinen Körper zu schänden. Die Tränen rollten ihm über die Wangen, und es gab keinen Trost. »Ich wusste es nicht. Ich wusste es nicht. Oh Gott.«
Der Wolf war erstaunt. »Aber natürlich hast du es gewusst. Durzo hat dir an seinem Leichnam einen Brief hinterlassen. Er hat dir alles erklärt. Er hat mir erzählt, er habe ihn sich in die Brusttasche gesteckt.«
»Ich konnte den Brief nicht lesen! Er war getränkt von Blut! Ich konnte kein verdammtes Wort lesen!« Da traf ihn eine letzte
Offenbarung. »Wer ist es diesmal?«, fragte er verzweifelt. »Wer stirbt diesmal für mich?«
Der Wolf war entsetzt. Seine funkelnden Augen und sein vernarbtes Gesicht wurden weicher, und zum ersten Mal sah er vollkommen menschlich aus. »Kylar, es tut mir leid. Ich dachte, du wüsstest es. Ich dachte, du hättest es die ganze Zeit über gewusst.«
»Mach es rückgängig! Bitte.«
»So funktioniert das nicht. Es gibt nichts, was einer von uns tun könnte. Diesmal ist es Elene.«
58
Kylar erwachte auf einem kalten Steinblock in einem kalten Raum. Er hielt die Augen geschlossen. Wenn er sich dazu hätte zwingen können, nie mehr zu erwachen, hätte er es getan. Er war vollkommen reglos, bis auf seinen Atem und die Strömungen seines Lebensblutes, das durch seine Adern floss. Wie immer, wenn er von den Toten zurückkehrte, fühlte sein Körper sich wunderbar an. Absolut unversehrt, machtvoll, berstend vor Energie. Er hatte ein Leben gestohlen, und es war in Fülle über ihn gekommen. Er war übervoll, verströmte Leben in alle Richtungen. Seine Gesundheit war ein Hohn.
Tränen traten ihm in die Augen und rollten die Wangen hinab. Kein Wunder, dass der Wolf ihn für ein Ungeheuer gehalten hatte. Er hatte gedacht, Kylar werfe das Leben jener weg, die er liebte und die ihn liebten.
Er lag auf dem Rücken, aber es wurde nur noch schlimmer, daher öffnete er die Augen. Die Luft roch schal. Die Decke war
kunstvoll, kühler, weißer Marmor. Er befand sich in einer Krypta. Nur Schritte entfernt, auf Steinblöcken wie dem seinen, lagen der Leichnam eines Mannes und der einer Frau. Der Mann war groß und hielt ein großes Schwert. Der Frau war die Kehle durchgeschnitten worden, und aufgrund der Art, wie sie verwest war, vermutete Kylar, dass sie verblutet war. Der Mann war ungefähr zur selben Zeit gestorben, gewiss während des Staatsstreichs. Es waren Logans Eltern. Um sie herum waren die Wände gefüllt mit etlichen Reihen von Leichen aus der Familie Gyre. Logan hatte Kylar in seine eigene Familienkrypta gelegt.
Kylar stand auf und verspürte nicht einmal ein Gefühl der Steifheit, weil er auf Marmor geschlafen hatte. Man hatte ihn in ein golddurchwirktes Hemd und weiße Kniehosen gekleidet, und an den Füßen trug er feine Rehlederschuhe. Es war natürlich pechschwarz in der Krypta. Er hätte unmöglich erkennen können, welche Tageszeit es war, und der Eingang der Krypta war mit einem gewaltigen Felsen versiegelt, der die Form eines Rades hatte, das höher war als ein Mann. Wenn Kylar sich recht erinnerte, befand sich die Krypta außerhalb der Stadt und unter der Erde. Wenn ja, hatte er eine gute Chance hinauszugelangen, ohne dass irgendjemand etwas davon bemerkte. Nichtsdestoweniger musste er hinaus, daher packte er das Rad und bewegte es mit seiner Magie.
Langsam vollführte der massive Stein eine halbe Drehung und blieb in einer leichten Vertiefung stehen. Kylar wurde unsichtbar und trat hinaus.
Es war Nacht, aber der Erntemond stand hoch und hell am Himmel. In dem schmalen Treppenhaus, das zur Krypta führte, stand ein junges Mädchen mit angstgeweiteten Augen. Es war Blau, das kleine Gossenkind aus der Gilde des Schwarzen Drachens.
Kylar hielt inne, immer noch unsichtbar, und rieb sich das
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