Jenseits Der Schatten
ich Euch in der Morgendämmerung des Mittsommertags in der Hohen Halle von Aenu treffen. Wir werden der Welt dort ein Duell zeigen, wie sie es noch nie gesehen hat. Das schwöre ich.«
Der Nachtengel warf sich die dünne Klinge auf den Rücken, wo sie mit seiner Haut verschmolz. Er verbeugte sich vor Garuwashi und dann vor Feir, bevor er verschwand.
»Ihr versteht nicht«, sagte Garuwashi, immer noch auf den Knien, aber der Nachtengel war bereits fort. In seinem Elend
wandte sich Garuwashi an Feir. »Werdet Ihr mein Sekundant sein?«
»Nein«, antwortete Feir.
»Nun gut, Ihr treuloser Diener. Ich brauche Euch nicht mehr.«
Garuwashi zog sein kurzes Schwert, aber dieses eine Mal war Feir schneller als der Sa’ceurai. Sein Schwert schlug Garuwashi die Klinge aus der Hand, und er hob sie auf.
»Gebt mir ein paar Stunden«, sagte Feir. »Der Jäger ist abgelenkt. Bei fünftausend Fliegen in seinem Netz wird er eine weitere vielleicht nicht bemerken.«
»Was wollt Ihr tun?«, fragte Garuwashi.
Ich werde Euch retten. Ich werde Euer ganzes verflucht halsstarriges, großartiges Volk, das einen dermaßen zur Raserei treiben kann, retten. Ich werde vermutlich nur ein verfluchter Esel sein, der selbst den Tod findet. »Ich gehe Euer Schwert holen«, sagte Feir und machte sich auf den Weg in den Wald.
11
Ein hohes, gequältes Heulen weckte Vi Sovari aus einem Traum von Kylar, der gegen Götter und Monster kämpfte. Im Nu hatte sie sich aufgesetzt, ohne die Schmerzen, die von einer weiteren Nacht auf Felsgrund herrührten, zu beachten. Das Heulen war meilenweit entfernt. Sie sollte es durch die gigantischen Mammutbäume und den dämpfenden Morgennebel gar nicht hören können, aber es hielt an, erfüllt von Wahnsinn und Zorn, und veränderte seine Höhe, während es sich mit unglaublicher Geschwindigkeit vom Mittelpunkt des Waldes aus verbreitete.
Erst in diesem Augenblick wurde sich Vi durch die uralten Ohrringe aus Mistarille und Gold Kylars bewusst. Sie hatte sich und Kylar damit gebunden, während er bewusstlos dagelegen hatte und der Gnade des Gottkönigs ausgeliefert gewesen war. Ihre Tat hatte Cenaria und Kylars Leben gerettet, und jetzt konnten Vi und Kylar einander spüren. Kylar war ungefähr zwei Meilen weit entfernt, und Vi konnte fühlen, dass er etwas von unglaublicher Macht in Händen hielt. Sie spürte, wie er eine Entscheidung traf. Die gewaltige Macht trennte sich von ihm, und er empfand ein merkwürdiges Gefühl des Sieges.
Plötzlich war es, als ob im Süden die Sonne aufginge. Vi schlotterten die Knie. Nur hundert Schritt entfernt, wo die gewaltigen Mammutbäume von Ezras Wald begannen, wurde sogar die Luft strahlend goldfarben und pulsierte vor Magie. Vi hatte das Gefühl, als küsse der Sonnenaufgang eines Mitsommertages ihr die Haut.
Dann vertiefte sich die Farbe zu einem rötlichen Gold. Jedes Staubkörnchen in der Luft, jedes winzige Wassertröpfchen im Nebel war in die flammende Pracht des Herbstes gehüllt.
Als Vi fünfzehn gewesen war, hatte ihr Meister, der Blutjunge Hu Gibbet, sie zu einem Auftrag auf ein Landgut mitgenommen. Ihre Leiche war der uneheliche Sohn irgendeines Lords, der ein erfolgreicher Gewürzkaufmann geworden war und beschlossen hatte, den Sa’kagé der Unterwelt ihre Investition nicht zurückzuerstatten. Das ganze Gut war voller Ahornbäume gewesen. An jenem Herbstmorgen hatte Vi sich durch eine goldene Welt bewegt, auf einem Teppich von rotgoldenen Blättern durch Luft, die selbst farbig schien. Noch während sie über der Leiche stand, hatte sich ihr Geist an einem Ort zurückgezogen, wo die wunderbaren roten Blätter nicht das hellrote Blut des Sterbenden tranken. Hu hatte sie dafür geschlagen, natürlich, und diese Strafe
hatte Vi sogar eingesehen. Ein Blutjunge, der sich ablenken lässt, ist ein toter Blutjunge. Für einen Blutjungen gibt es keine Schönheit.
Wieder erscholl das Heulen im Wald und ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Es bewegte sich mit furchtbarer Geschwindigkeit, und die Tonhöhe schwoll an, wurde wieder niedriger und dann erneut höher - all das innerhalb von zwei Sekunden, als ob es sich von einem Ende des Waldes zum anderen bewegte, schneller, als es irgendjemandem möglich sein konnte. Überall, wo es war, folgten ihm das schwache, blecherne Klirren zerspringenden Metalls. Dann der Schrei eines Mannes. Dann weitere Schreie.
Im Wald fand eine Schlacht statt. Nein, ein Massaker.
Währenddessen pulsierte der ganze Wald vor Magie.
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