Jenseits Der Schatten
Das flammende Rot verblasste zu einem gelblichen Grün und dann zum tiefen Grün des Lebens, dem Geruch neuen Grases und frisch erblühter Blumen.
»Kylar hat ihm neues Leben eingehaucht«, sagte Vi laut. Sie wusste nicht, woher diese Erkenntnis kam, aber ihr war klar, dass Kylar irgendetwas in den Wald gebracht hatte - und dass dieses Etwas den gesamten Wald verjüngte. Kylar selbst fühlte sich gestärkt und so wohl, wie er sich die ganze Woche, seit sie das Band teilten, nicht gefühlt hatte. Heil und ganz.
Vi spürte, dass hinter ihr etwas nicht stimmte. Sie griff blitzartig nach den Dolchen, die sie im Gürtel trug. Dann lag sie auf dem Rücken. Sie hatte noch keine Zeit gehabt, wieder einzuatmen, als eine knisternde Kugel blauer Energie über sie hinwegschoss, genau dort, wo sie gerade gestanden hatte.
Zunächst blieb Vi nichts anderes übrig, als zu keuchen und zu versuchen, wieder zu Atem zu kommen. Erst einige Sekunden später konnte sie sich wieder aufsetzen. Vor ihr stellte ein Mann
in dunkelbraunen Lederumhängen den Fuß auf das Gesicht einer Leiche und zog einen Dolch aus deren Auge. Die Leiche trug die Kleider eines khalidorischen Vürdmeisters, dessen schwarze Vir sich noch unter der Oberfläche seiner Haut wanden. Vis Retter reinigte seinen Dolch und wandte sich um. Alle seine Bewegungen waren vollkommen lautlos. Umhänge, Westen, Taschen und Beutel jeder Art bedeckten den Mann. Alle aus Pferdeleder, alle im gleichen dunkelbraunen Farbton gegerbt und abgenutzt im Laufe vieler Jahre. Zwei nach vorn gebogene Krummdolche steckten hinten in seinem Gürtel, ein ungespannter, reich mit Schnitzereien verzierter kurzer Bogen hing ihm über den Rücken, und außerdem sah Vi zahlreiche Messer und Schwertgriffe aus seinen Gewändern hervorragen. Er knüpfte eine braune Maske los, die sein Gesicht bis auf die Augen verdeckt hatte, und drehte sie sich hinter den Kopf. Sein Gesichtsausdruck war freundlich, die braunen Augen mandelförmig, das schwarze Haar ungebunden, dazu breite, flache Gesichtszüge mit hohen Wangenknochen. Er konnte nur ein ymmurischer Pirscher sein.
Die Pirscher galten als die besten Jäger aller ymmurischen Pferdefürsten. Es hieß, sie seien in den Wäldern oder Steppen des Ostens, wo die Ymmuri lebten, unsichtbar. Sie schossen kein Wild, das nicht in schneller Bewegung war, ganz gleich, ob zu Lande oder in der Luft. Und sie besaßen alle magisches Talent. Mit anderen Worten, sie waren die Blutjungen der Steppe. Aber anders als die Blutjungen töteten sie nicht gegen Bezahlung, sondern um der Ehre willen.
Und verdammt will ich sein, wenn die Geschichten über sie nicht wahrer sind als die über uns.
Der Pirscher legte die Hände hinter dem Rücken zusammen und verbeugte sich. »Ich bin Dehvirahaman ko Bruhmaeziwakazari«, sagte er in einem merkwürdigen Singsang, der wohl daher
rührte, dass seine Muttersprache tonal war. »Du darfst … lauschen? … nennen, ja, mich Dehvi nennen .« Er lächelte. »Du bist Vi, ja?«
Vi erhob sich und schluckte. Dieser Mann hatte sich an sie - einen Blutjungen - angeschlichen und sie ohne Weiteres zu Boden geworfen, und jetzt stand er lächelnd und freundlich vor ihr. Das war ebenso beängstigend wie die blaue Kugel des Todes, die ihr Gesicht nur um wenige Zoll verfehlt hatte.
»Komm«, sagte Dehvi. »Hier ist es nicht mehr sicher. Ich werde dich begleiten.«
»Was meinst du?«, fragte Vi.
»Magie … ruft? Bittet? Lauscht? Den Dämon des Waldes.« Dehvi rümpfte die Nase. Vi wusste, was er meinte, aber sie war sich nicht sicher, nach welchem Wort genau er suchte. »Herbeirufen!«, sagte er schließlich. »Dieser Herbeiruf bedeutet Tod.«
»Dieser Ruf«, sagte Vi und fügte für sich die Worte zu einem Ganzen zusammen. Magie rief den Jäger herbei. Der Vürdmeister hatte Magie benutzt, und Vi war magisch begabt. Der Jäger würde vielleicht kommen.
Der Pirscher runzelte die Stirn. »Diese Worte machen mir schwierig. Zu viele Bedeutungen.«
»Wo bringst du mich hin?«, fragte Vi. Und habe ich überhaupt eine andere Wahl, als mitzukommen? Sie entspannte sich und ließ beiläufig die Finger über ihren Gürtel wandern, um sich ihrer Dolche zu vergewissern, während sie so tat, als wische sie sich den Schmutz von der Hose - aber ihre Dolche waren fort.
Der Pirscher musterte sie kühl. Auf jeden Fall war ihre Bewegung nicht beiläufig genug gewesen. »Zur Chantry.«
Er wandte sich ab, kniete sich neben die Leiche und murmelte leise einige Worte in
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