Jenseits Der Schatten
einer Sprache, die Vi nicht kannte. Er spuckte drei Mal auf den Mann, verfluchte ihn nicht mit Beschimpfungen,
wie Vi geflucht hätte, sondern sandte die Seele des Mannes tatsächlich in irgendeine ymmurische Hölle.
»Willst du nun kommen?«, fragte Dehvi und reichte Vi ihre Dolche.
»Ja«, sagte sie und nahm die Klingen vorsichtig entgegen. »Bitte.«
»Dann komm. Der Dämon jagt. Besser fortgehen.«
12
Als Dorian mit dem Studium zum Hoth’salar, einem Bruder der Heilkunst, begonnen hatte, hatte er einen kleinen Zauber gewebt, um Influenza-Symptome nachzuahmen. Der Zauber tötete das Leben ab, das den Bauch bewohnte - mit niederschmetternden Ergebnissen, die aber innerhalb von ein oder zwei Tagen wieder verschwanden. Mehrmals hatte Dorian zu Solons und Feirs ungeheurer Erheiterung den Zauber für andere als akademische Gründe benutzt. Jetzt machte eine »Influenza« die Runde bei den Eunuchen, und Halbmann wurde zu Doppelschichten und unvertrauten Aufgaben gezwungen. Er hatte sich als Ersten krank gemacht, um keinen Verdacht zu erregen.
Heute waren zwei der Eunuchen krank, die das größte Vertrauen genossen. Und Halbmann stieg die Treppe zum Tigerturm hinauf, einem seltsamen Bau, der so aussah, als sei er drauf und dran, beim nächsten Sturm einzustürzen. Er kam an Tausenden großer Beutelkatzen vorbei. Sie sahen aus wie Wölfe mit übergroßen Mäulern, schwertähnlichen Zähnen und orangefarbenen und schwarzen Streifen. Wo immer er hinschaute, erwiderten
die Tiger seinen Blick. Sie waren auf Wandteppichen und Kupferstichen; es gab sie als winzige Statuen und uralte, räudige ausgestopfte Exemplare; er sah Ketten aus Beutelkatzenzähnen, Gemälde von Tigern, die Kinder in Stücke rissen. Machart und künstlerischer Stil waren völlig unwichtig. Für Bertold Ursuul hatte nur gezählt, dass es Säbelzahntiger waren.
Dorian erreichte atemlos und zitternd vor Kälte die Spitze des Turms, wobei er bedauerte, dass die Speisen, die er hinauftrug, schon lange nicht mehr warm sein konnten. Außerdem fragte er sich voller Furcht, wer hier oben sein würde. Wenn sie eine der magisch begabten Ehefrauen oder Konkubinen war, würde sie seine Magie vielleicht riechen. Das Ausmaß der Gefangenschaft der Frauen war so groß, dass jede, die einen Verräter entdeckte, ihn sofort melden würde.
Dorian klopfte an die Tür. Als sie geöffnet wurde, war ihm, als habe ein gewaltiger Hieb ihm alle Luft aus der Lunge getrieben.
Sie hatte langes dunkles Haar, große dunkle Augen, eine schlanke, aber wohlgeformte Figur unter unförmigen Kleidern. Keinerlei Schminke betonte ihre Augen oder rötete ihre Lippen. Sie trug keinen Schmuck. Als sie lächelte, blieb ihm das Herz stehen. Er war ihr noch nie begegnet, aber er kannte dieses Lächeln. Er hatte dieses Grübchen auf der linken Seite gesehen, ein klein wenig tiefer als das auf der rechten. Sie war die Eine.
»Mylady«, sagte Dorian.
Sie lächelte. Sie war eine kleine junge Frau mit traurigen, freundlichen Augen. So jung!
»Du kannst sprechen«, und ihre Stimme war leicht, rein und stark, die Art von Stimme, die förmlich danach schrie zu singen. »Bisher haben sie nur Taubstumme geschickt. Wie ist dein Name?«
»Es bedeutet den Tod für mich zu sprechen, Mylady, und
doch … Wie groß ist Eure Angst vor ihnen?«, fragte Halbmann. Wenn er seinen wahren Namen nannte, wäre dies die ultimative Hingabe. Er wollte ihn ihr zu Füßen werfen und sich ihr auf Gedeih und Verderb ausliefern, aber das wäre Wahnsinn zusätzlich zu dem Wahnsinn, dem er entronnen war, indem er seine prophetische Gabe weggeworfen hatte.
Jenine hielt inne und biss sich auf die Unterlippe. Ihre Lippen waren voll und rosig trotz der Kühle dieses hohen Turms. Dorian - denn Halbmann hätte das niemals gewagt - konnte nicht umhin, sich vorzustellen, diese weichen, vollen Lippen zu küssen. Blinzelnd drängte er alle fleischlichen Dinge aus seinen Gedanken, beeindruckt davon, dass diese junge Frau seiner Frage tatsächlich Überlegung schenkte. In Khalidor war Furcht Weisheit.
»Ich habe hier immer Angst«, sagte sie. »Ich glaube nicht, dass ich dich verraten werde, aber wenn sie mich foltern?« Sie legte die Stirn in Falten. »Es ist nicht viel, was ich dir geben kann, nicht wahr? Ich werde dein Vertrauen bis zum Äußersten dessen wahren, was ich ertragen kann. Es ist ein trauriger und lahmer Schwur, aber man hat mich innerlich wie äußerlich jedweder Reichtümer entkleidet.« Dann lächelte sie,
Weitere Kostenlose Bücher