Jenseits Der Schatten
sich um und ging davon, ohne auf eine Antwort zu warten.
Viele Treppenstufen später erreichten sie eine Hospitaletage mit Hunderten von Betten. Die meisten waren leer, aber Schwestern mit grünen Schärpen gingen zwischen denen umher, in denen jemand lag. Manchmal berührten sie die Wände, die auf der Stelle durchsichtig wurden und die diffuse Morgensonne einließen.
»Ist Uly krank?«, fragte Elene.
Schwester Ariel sagte nichts. Sie führte Elene an Dutzenden von Betten vorbei. Bei manchen Mädchen waren Arme oder Beine in Gaze gewickelt, und hier und da schliefen uralt aussehende Magae, aber die meisten der Verletzten wiesen keine augenfälligen Wunden auf. Magische Wunden, vermutete Elene, hinterließen nicht immer Spuren am Körper.
Schließlich blieben sie an einem Bett stehen, aber die Frau darin war nicht Uly, es war Vi. Elene stockte der Atem. Nach dem kurzen Blick, den sie in Torras Bend auf die Rothaarige hatte werfen können, hatte sie gedacht, sie habe Vi nie zuvor gesehen, aber das stimmte nicht. Vi war Teil der schicksalsträchtigen letzten Feier im Herrenhaus der Jadwins gewesen. An jenem Abend war Vi als Blondine gekommen, angetan mit einem Kleid, das man nur einen Skandal in Rot hatte nennen können. Elene erinnerte sich deutlich an den Aufruhr von Gefühlen, den sie an diesem Abend erfahren hatte: Schock darüber, dass jemand ein so freizügiges Gewand trug, Verurteilung, Faszination. Elene - und alle anderen Anwesenden - hatte den Blick nicht von der Frau lösen können. Unmittelbar nach dem Aufflammen jener ersten Gefühle und ohne auch nur für einen Moment in ihrer Entrüstung nachzulassen, hatte sie Eifersucht empfunden, Sehnsucht, das flaue Gefühl, mit solcher Schönheit nicht mithalten zu können. Sie hatte sich gewünscht, sie könnte solche Blicke auf sich ziehen, und gewusst, dass das niemals geschehen würde - dass sie niemals solche Kleider tragen würde, selbst wenn sie es könnte -, aber sie hatte trotzdem gewünscht, sie könnte es tun, nur für einige wenige Augenblicke. Vi war diese Frau, und wenn überhaupt, war sie mit ihrem glänzenden, flammend roten Haar noch atemberaubender.
Dann, als Elene näher an das Bett herantrat, sah sie Vis anderes Ohr. Sie trug einen einzelnen Ohrring, Mistarille und Gold,
der im Morgenlicht blitzte. Es war die eine Hälfte genau des Paares wunderschöner Eheohrringe, auf das Elene Kylar aufmerksam gemacht hatte. Es war, als entfalte der Aufruhr von Gefühlen, der sich Elenes bereits bemächtigt hatte, plötzlich die elementare Kraft von Naturgewalten. Dies war ihre Konkurrenz? Diese … Kreatur hatte Kylar beringt? Kein Wunder, dass er sie erwählt hatte. Welcher Mann würde das nicht tun?
Schwester Ariel war unbemerkt neben Elene getreten, und jetzt, da sie sprach, war ihr Stimme ein Flüstern. »Wenn sie schläft, sehe ich, was für eine schöne Frau Viridiana gewesen wäre.«
Elene warf der Schwester einen Blick zu. Als ob sie noch schöner sein könnte …
»Sie ist spröde und krank und hart und missbraucht worden. Ihr Charakter ist so schäbig, wie ihr Körper schön ist. Du wirst es sehen, wenn sie erwacht. Sie ist eine wandelnde Tragödie. Das Gewerbe, das man sie gelehrt hat, würde jeden zerstören, der eine Seele besitzt. Das weißt du aus Kylars Erfahrung. Aber Vi hat nicht nur ein krankes Gewerbe erlernt, sie hat es unter Gibbet erlernt - allzu häufig buchstäblich unter ihm, von der Zeit an, da sie ein Kind war. Wann immer ich - so alt und fett ich bin - sie schlafen sehe, werde ich immer noch eifersüchtig. Ich vergesse immer noch, dass Vis Schönheit ihr kein Freund war.« Schwester Ariel hielt inne, als sei ihr plötzlich ein Gedanke gekommen. »Tatsächlich war Jarl der einzige Freund, den sie je hatte - männlich oder weiblich -, und der Gottkönig hat sie dazu gezwungen, ihn zu töten.«
Elene wollte es nicht hören. »Was ist los mit ihr? Ich meine, warum ist sie hier?«
Schwester Ariel seufzte. »Unsere Initiation verlangt nicht nur Eignung, sie verlangt Konzentration. Vi bringt Eignung in einem beinahe erschreckenden Maße mit. Sie ist magisch ebenso begabt,
wie sie schön ist. Ich habe mir Sorgen gemacht und mache mir immer noch Sorgen, dass diese Erfahrung sie verderben könnte. Um unsere Kunst geziemend zu erlernen, braucht man Geduld und Demut, und Frauen mit gewaltiger magischer Begabung neigen dazu, es an beidem mangeln zu lassen. Also habe ich sie unverzüglich in die Initiation gedrängt. Angesichts
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