Jenseits Der Schatten
war so groß wie er selbst. Die Art von Netz, die über seinem Rücken baumelte und wie ein Umhang aus Dornen auf seine Schultern fiel, war für gewöhnlich gesäumt von Bleigewichten, damit sie sich besser ausbreitete, wenn man sie warf. Oshobis Netz wurde von kleinen Dolchen beschwert. Es konnte nicht nur als Netz benutzt werden, sondern auch als Schild und von einem
geschickten Krieger sogar als Morgenstern. Angesichts der zahlreichen Narben und der beeindruckenden Muskeln auf Oshobis nackter Brust vermutete Solon, dass Oshobi Takeda genau das war: ein geübter Krieger. Er war seinem Namen gerecht geworden. Oshobi bedeutete große Katze oder Tiger, aber Solon erinnerte sich daran, dass die älteren Jungen ihn Oshibi genannt hatten: kleines Kätzchen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass ihn heute noch irgendjemand so nannte.
»Ich erbitte die Ehre einer Audienz bei Kaiserin Wariyamo«, sagte Solon. Es war eine wohlberechnete Erklärung, mit der er nicht auf seinen eigenen Status pochte und den ihren anerkannte.
»Ihr steht unter Arrest«, entgegnete Oshobi. Binnen eines Wimpernschlags hob er das Netz von den Dornen auf seinen Schultern. Er sah aus, als wünsche er sich einen Vorwand, es zu benutzen.
Der Mann war ein Narr. Solon war ein Magier, und Oshobi sollte sich daran erinnern. Natürlich sah Solon nicht aus wie einer. Nach seinem Jahrzehnt im Dienste von Herzog Regnus Gyre sah er selbst so hart und vernarbt aus wie ein Krieger, wenn auch einer, dessen Haar unnatürlich weiß nachwuchs. »Aufgrund welcher Anklage? Ich habe durchaus gewisse Rechte, Mikaidon. Wenn nicht als Prinz«, er strich sich über seine ungestochene Wange, »dann gewiss als Edelmann.« Seine Schultern sackten unmerklich herab. Kaede war also wütend. Sollte ihn das überraschen?
»Euer Bruder hat alle Rechte der Tofusins aufgegeben. Ihr könnt selbst gehen, oder ich kann Euch hinzerren.«
Was hat mein Bruder getan? Solon war während der gesamten Regentschaft seines Bruders an verschiedenen Schulen gewesen, um Magie zu erlernen, und Dorians Prophezeiungen hatten Solon zum Zeitpunkt von Sijuron Tofusins Tod nach Cenaria
geführt. Sie hatten einander nicht nahegestanden; Sij war ein Jahrzehnt älter gewesen als er, aber Solons Erinnerungen an ihn waren angenehm. Anscheinend waren Oshobis Erinnerungen das nicht.
Solon sagte: »Das ist ja eine böse Sache, Oshobi.«
Oshobi schlug mit dem stumpfen Ende seines Dreizacks nach Solons Kopf. Solon fing den Schaft der Waffe mit der Hand ab und sah den Mikaidon geringschätzig an.
»Ich werde selbst gehen«, erklärte er. Sein Herz wurde zu Blei. Während Sijurons Herrschaft hatte Solon zusammen mit Dorian und Feir auf der Suche nach Curoch Midcyru der Länge und der Breite nach durchreist, so dass es für ihn keine Überraschung gewesen war, dass er nicht viel von zu Hause gehört hatte. Und dann, als er seine Identität verborgen und sich auf den Weg nach Cenaria gemacht hatte, um einer von Dorians Prophezeiungen zu dienen, hatte er niemanden daheim erzählt, wo er hinging. Aber jetzt schien ihm dieses lange Schweigen nichts Gutes zu verheißen. Aufgrund der Notwendigkeit, seine Identität geheim zu halten, hatte Solon alle Sethi gemieden, die er sah, und jene, die ihn sahen, bemerkten den Mangel an Clansringen und mieden ihn als einen Verbannten. Aber selbst die gewöhnlichen Neuigkeiten, die man vielleicht von Fremdländern hörte, waren größtenteils ausgeblieben, als habe das sethische Volk nichts mit Außenstehenden teilen wollen.
Aber auf dem Weg zum Schloss nahm Solon die Düfte und Bilder seiner alten Heimat auf, und ein wenig von seiner Anspannung verebbte. Dieses Land war Balsam für ihn. Er hatte vergessen, wie sehr er die roten Hügel von Agrigolay vermisst hatte. Während die schwere, vierrädrige Kutsche des Mikaidon die gepflasterte Straße zum Kaiserpalast hinaufrollte, wanderte Solons Blick nach Westen. Wie in den meisten Städten drängten sich auf der
Zufahrt zum Palast dicht an dicht Gebäude, Privathäuser und Läden. Aber in Seth standen nur auf der östlichen Seite des Kaiserlichen Weges Gebäude. Auf der Westseite fanden sich jahrhundertealte Weingärten, die sich, so weit das Auge reichte, in perfekten Reihen über die Hügel zogen. Die Trauben hingen schwer an den Reben, und Männer prüften ihren Reifegrad. Die Ernte konnte jetzt jeden Tag beginnen.
Die meisten Königreiche verlangten von ihren Fürsten, jeden Sommer eine gewisse Anzahl von Männern für den
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