Jenseits der Sehnsucht (German Edition)
Jacob Hornblower war nicht nur ein Pinsel. Er war ein geistesgestörter Pinsel.
Jetzt übertreib mal nicht, ermahnte sie sich selbst. Nur weil sie ihn nicht mochte, hieß das noch lange nicht, dass er verrückt war. Immerhin war er Cals Bruder, und während des letzten Jahres hatte Sunny echte Sympathie für Cal entwickelt. Bruder Jacob mochte zwar störend und nervtötend wie eine lästige Fliege erscheinen, aber deswegen musste nicht gleich eine Schraube bei ihm locker sein.
Trotzdem …
Hatte sie nicht von Anfang an gedacht, dass er sich komisch benahm? Sie sah wieder zum Fenster hinaus, doch alles, was sie sehen konnte, waren die frischen Fußspuren im Schnee.
Cal macht eigentlich einen ganz normalen Eindruck, überlegte sie weiter. Aber was wussten sie schon von seiner Familie oder seinem Hintergrund? So gut wie nichts. Ihr war schon einige Male aufgefallen, wie verschlossen Cal wurde, sobald die Sprache auf seine Familie kam. Sie sah zurück zum Fenster. Vielleicht gab es dafür ja gute Gründe.
Dieser Bruder hatte sich wirklich seltsam benommen. Wie er unangemeldet aufgetaucht war und in ihrem Schlafzimmer die Vogue bewundert hatte, als hielte er heilige Schriftrollen in der Hand. Dann sein Verhalten in der Küche. Wie er mit dem Wasserhahn gespielt hatte. Oder den Kühlschrank angestarrt hatte. Oder den Herd. Als hätte er solche Dinge nie zuvor gesehen. Oder lange nicht gesehen …
Sunnys Gedanken wirbelten und schlugen Haken. Genau, dachte sie, weil er eingeschlossen gewesen ist. Weggesperrt, damit er keine Gefahr mehr für andere darstellt.
Die Unterlippe zwischen die Zähne geklemmt, begann sie wieder im Zimmer auf und ab zu tigern. Mit dem Fuß stieß sie an seine Tasche. Sunny sprang erschrocken zurück und starrte die Tasche an. Er hatte sie vergessen. Was bedeutete, dass er zurückkommen würde.
Nun, damit konnte sie umgehen. Sie konnte auf sich aufpassen. Sich die Hände an den Jeans reibend, starrte sie weiter auf die Tasche. Aber es würde ja nichts schaden, ein paar Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, oder?
Ihrem Impuls folgend, kniete sie sich hin. Privatsphäre oder nicht, sie würde sich diese Tasche ansehen. Die war übrigens auch seltsam. Weder Reißverschlüsse noch Schnallen. Das Klettband ließ sich völlig geräuschlos aufreißen. Ein letzter schuldiger Blick über die Schulter zurück, und dann kramte sie auch schon im Inneren.
Eine Garnitur zum Wechseln, ein Pullover, schwarz, eine Jeans, beides offensichtlich noch nie getragen und ohne Label. Nirgendwo fand sich ein Etikett mit einem Designer- oder Markennamen. Sunny legte die Sachen beiseite und suchte weiter. Sie fand ein Phiole mit der Aufschrift »Fluoratin«, in der sich eine klare Flüssigkeit befand, und ein Paar Turnschuhe aus bestem Leder. Kein Rasierzeug, kein Spiegel, nicht einmal eine Zahnbürste. Nur diese neuen Klamotten und ein Fläschchen mit einer Flüssigkeit, die gut irgendein Medikament sein konnte.
Ihre letzte Entdeckung war auch die verwirrendste. Ein elektronisches Gerät, so klein, dass es in ihre Handfläche passte. Rund, flach, mit Scharnier. Als sie es aufklappte, erkannte sie eine Anzahl winziger Knöpfe. Als sie den ersten drückte, ertönte Jacobs Stimme laut und klar aus der metallenen Scheibe. Er zählte irgendwelche Gleichungen auf, wie sie ausmachen konnte, aber weder die Begriffe noch die Zahlen sagten ihr etwas. Diese kleine Scheibe gab Anlass zu völlig neuen Vermutungen.
Er war ein Spion. Von der anderen Seite. Oder von welcher Seite auch immer. Und sein Verhalten ließ darauf schließen, dass er ein ausgebrannter Spion war, also unberechenbar. An Fantasie hatte es Sunny noch nie gemangelt. Sie konnte sich alles genauestens vorstellen.
Er war geschnappt worden. Welche Methoden auch immer man benutzt hatte, um Informationen aus ihm herauszuquetschen, es hatte ihn verrückt gemacht. Cal hatte sich eine Geschichte einfallen lassen, um die Abwesenheit seines Bruders glaubhaft zu machen. Er hatte behauptet, sein Bruder sei Astrophysiker, der zu tief in seiner Arbeit stecke, um an die Westküste zu kommen. In Wahrheit war dieser Bruder jedoch in irgendeiner Institution festgehalten worden. Und jetzt war er geflohen.
Sunny drückte wahllos Knöpfe, bis Jacobs Stimme verstummte. Sie würde vorsichtig mit ihm umgehen. Was auch immer sie von ihm hielt, er gehörte zur Familie. Sie würde sich erst davon überzeugen, dass er tatsächlich ein gefährlicher Psychopath war, bevor sie etwas
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