Jenseits Der Unschuld
eine Bar betrat. Doch Paul hatte ihr versichert, dies sei völlig normal hier auf dem Montmartre.
»Rachelle sitzt allein an einem Tisch. Kommen Sie, Sofie.«
An einem der hinteren Tische saßen drei junge Männer, die übernächtigt und ziemlich ramponiert aussahen. Am Nebentisch saß eine junge Frau; sie trank Kaffee und aß ein kleines Stangenbrot. Sofie folgte Paul durch das Lokal.
Rachelle stand lächelnd auf. Sie war groß und sehr schön, obwohl sie ein formloses, schwarzes Wollkleid trug, dazu derbe Männerstiefel, ähnlich wie Paul. Um die Schultern hatte sie ein scharlachrotes Tuch geschlungen.
Kastanienrotes Kraushaar umrahmte ihr schönes Gesicht und hing ihr weit über den Rücken. Ihre blauen Augen strahlten. »Bonjour Paul, bonjour, Mademoiselle. Sie müssen Sofie sein. Je suis enchante.«
Sofie gefiel das Mädchen vom ersten Augenblick an. Sie musste ihr nur in die Augen schauen, um zu wissen, dass Rachelle eine freundliche, herzensgute Person war, mit sich und der Welt zufrieden. Sofies Blick wurde magisch von ihren derben Männerstiefeln angezogen. Wie konnte Frau nur so reizend und hübsch aussehen in diesem unvorteilhaften, unmöglichen Aufzug? »Ich freue mich, Sie kennenzulernen«, sagte Sofie.
»Bitte, asseyez-vous.« Rachelle wies auf die beiden freien Stühle an ihrem Tisch.
Sofie setzte sich. Paul bestellte Kaffee. Dann begann er mit Rachelle über ein kürzlich entstandenes Bild zu sprechen, für das Rachelle Modell gesessen hatte. Beide waren sich einig darüber, dass der Maler, der sie porträtiert hatte ein gewisser Pablo Picasso - sehr begabt war, seine wahren Talente jedoch noch im verborgenen schlummerten. Sofie hörte aufmerksam zu und studierte das schöne Malermodell. Sie hatte bereits beschlossen, dass Rachelle eine wunderbare Gesellschafterin sein würde. Nach langer Zeit begann sich in Sofie wieder Freude am Leben zu regen.
Kapitel 18
New York City, December 1901
Er war betrunken und scherte sich einen Dreck darum. Es war erst Mittag, aber es war auch Heiligabend.
Edward redete sich ein, dies sei der Grund, warum er seine neue, schwarz glänzende Daimler-Limousine an der Fifth Avenue genau gegenüber der Villa der Ralstons geparkt hatte. Es war Heiligabend, und alle Welt wusste, dass Weihnachten kein Fest der Freude war, sondern eine Zeit der Einsamkeit und Trauer.
Edward konnte sich jedenfalls nicht daran erinnern, je fröhliche Weihnachten erlebt zu haben. Er war erst elf gewesen, als sein Bruder Slade, den er vergöttert hatte, von zu Hause fortgelaufen war. jedes Weihnachten danach war eine trübe Angelegenheit gewesen.
Edward umklammerte das Lenkrad und kam sich wieder vor wie der kleine schuldbewusste Junge, der sich dafür verantwortlich fühlte, dass sein großer Bruder fortgelaufen war. Aber er war kein elfjähriger Junge mehr, er war ein erwachsener Mann, und nun peinigte ihn sein Gewissen aus einem anderen Grund, und dieser Grund hieß Sofie.
Edward gelang es zumeist, keinen Gedanken an Sofie O'Neil zu verschwenden. In den vier Monaten, seit er sie verführt hatte, war er zum Experten in Sachen Verdrängung geworden. Aber heute war Weihnachten, und Edward hatte keine Lust, seine Zeit mit einer grell geschminkten aufdringlichen Dirne zu verbringen; sein Magen drehte sich um bei dem Gedanken an ein Glas Whisky, und zu allem Überfluss war er abgebrannt, wodurch er auch nicht in Versuchung geriet, sich an den Spieltisch zu begeben. Vermutlich würde er das hohle Geschwätz der Gäste im La Boite ohnehin nicht
ertragen. Im Übrigen hatten die meisten dieser bornierten Lebemänner Familien, zu denen es sie wenigstens an Weihnachten zog. Heute würden nur die jämmerlichsten Gestalten im Club um den Pokertisch sitzen.
Edward fühlte sich wie die jämmerlichste dieser Jammerfiguren.
Er starrte unverwandt zur Villa der Ralstons hinüber und überlegte, was sie gerade machte, ob sie den Baum schmückte, ob sie je an ihn dachte, ob sie bereute, was geschehen war - ob sie ihn ebenso haßte wie er sich selbst wenn er halbwegs nüchtern war.
Er musste sich Gewissheit verschaffen.
Edward stieg aus dem Daimler. Es hatte zu schneien angefangen, dicke Flocken schmolzen auf seiner Nase. Er hatte vergessen, einen Mantel anzuziehen, doch die Kälte, die ihm bis in die Knochen fuhr, tat ihm gut. Sollte er Sofie tatsächlich heute begegnen, musste er wenigstens nüchtern erscheinen. Während er die vereiste Straße überquerte, stieg Angst in ihm auf. Was, zum Teufel,
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