Jenseits Der Unschuld
verließ, erinnerte Mrs. Crandal sie grämlich daran, sich endlich um eine neue Gesellschafterin umzusehen, da sie in einer Woche nach New York zurückreise. Mrs. Crandal wollte Weinachten bei ihrer Familie verbringen, was Sofie ihr nicht verdenken konnte. Im übrigen würde sich ihr Zustand nicht mehr lange verbergen lassen. Sie war nun drei Monate schwanger. Suzanne hatte immer wieder betont, Mrs. Crandal müsse unterallen Umständen die Heimreise antreten, ehe sie die Wahrheit herausfand.
Sofie ging zwei Querstraßen zu Fuß und winkte einer Droschke. Suzannes Wunsch, die Schwangerschaft ihrer Tochter geheim zu halten, war zwar verständlich, aber auch sinnlos. Über kurz oder lang würde ohnehin jeder Bescheid wissen. Vor Sofies Abreise hatte Suzanne noch einmal darauf bestanden, sie müsse das Baby zur Adoption freigeben, doch Sofie hatte sich erneut strikt geweigert. Suzanne hatte ihr sogar verboten, mit ihrem Kind nach New York zurückzukehren. Sofie dachte freilich nicht daran, sich dem absurden Verbot ihrer Mutter zu beugen. Niemals würde sie ihr Kind weggeben. Mochte Suzanne Angst vor einem Skandal haben, Sofie ließ ich davon nicht beeindrucken. Sie würde auch als ledige Mutter in die Heimat zurückkehren.
Die Droschke fuhr über die Seinebrücke. Mittlerweile war Sofie der Zauber von Paris vertraut. Die Stadt an der Seine war beschaulicher, weniger hektisch als das geschäftige New York. Hin und wieder spielte Sofie sogar mit dem Gedanken, gar nicht mehr nach New York zurückzukehren. Sie könnte Paris zu ihrer Wahlheimat machen, so wie viele amerikanische Künstler. Sie hatte keine Bindungen an New York, abgesehen von ihrer Familie, die Sofie und ihr Baby auch in Paris besuchen konnte.
Sofie kniff die Augen zusammen. Sie durfte nicht an den Vater ihres Kindes denken, der in New York lebte, der keine Ahnung hatte, dass er bald Vater werden würde. Sie durfte nicht an die Frage denken, die sie immer wieder plagte. Sie durfte keine Gewissensbisse haben, dass sie Edwards Kind unter dem Herzen trug, ohne dass er davon wusste.
Die Droschke hielt vor Pauls Haus. Sofie bezahlte den Kutscher, als Paul im langen Wollmantel und derben Stiefeln aus dem Haus trat. »Bonjour, ma petite«, begrüßte er sie strahlend und küsste sie auf beide Wangen. »Wo sind Ihre Handschuhe?« schalt er und zog seine Fäustlinge aus. »Hier, ziehen Sie meine an, bevor sie sich die Finger blau frieren. «
Sofie genoss seine Fürsorge und nahm sein Angebot gerne an. »Wollen Sie ausgehen?«
»Nur mit Ihnen. Ich möchte Ihnen jemanden vorstellen.«
Sofie zog fragend die Brauen hoch, als er sie beim Ellbogen nahm und ihr über die Straße half. Auf dem Hügel standen die Windmühlen wie stumme Wachposten; von den stillstehenden Metallblättern hingen Eiszapfen. Es war bitter kalt, und der Butte wirkte wie ausgestorben ohne Tische und Stühle auf den Gehsteigen, ohne Passanten und Pferdegespanne auf den Straßen. Die Markisen an den Geschäften waren eingerollt, die Türen verschlossen, keine Kinder spielten lärmend in den Gassen, keine Gassenjungen bettelten um Münzen.
»Ich möchte Ihnen Rachelle vorstellen«, erklärte Paul. »Sie ist ein gefragtes Malermodell, verdient aber nicht viel.
Ich habe mit ihr über Sie gesprochen. Sie ist sehr daran interessiert, Ihre Gesellschafterin zu sein. Natürlich würde sie gern weiterhin als Modell arbeiten. Wenn Sie das jedoch nicht wünschen, würde sie es aufgeben, solange Sie in Paris sind.«
»Wenn Sie mir Rachelle empfehlen, gefällt sie mir mit Sicherheit«, sagte Sofie.
Paul lächelte und führte sie zum Eingang eines Lokals, über dem ein grünes Schild hing mit der Aufschrift Zut.
Aus dem Inneren drang lautes Stimmengewirr und Gelächter. Paul öffnete die Tür.
»Rachelle frühstückt im Zut«, erklärte er.
»In einer Bar?«
»Warum nicht? Hier verkehren Studenten, Künstler, Modelle und berühmte Maler, Sofie.« Er lächelte. »Wir sind in Paris, nicht in New York. Eine Bar ist ein Künstlertreffpunkt.«
Sofie blickte zaghaft an Paul vorbei in das Lokal, ein holzgetäfelter behaglicher Raum mit einer langen Theke an einer Seite, hinter dem der Wirt Getränke ausschenkte. Nur wenige Tische waren besetzt. Die Gäste, vorwiegend Männer, tranken nicht nur Kaffee. Manche hatten bereits ein Glas Wein, Bier oder Likör vor sich stehen. Sofie warf Paul einen ängstlichen Blick zu. Es war kurz nach elf Uhr vormittags. Sie wagte kaum zu glauben, dass sie am helllichten Tag
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