Jenseits Der Unschuld
zurückkehrte, setzte sie sich über Veraults letzte Anweisung hinweg. Auf der Staffelei stand eine ländliche Szene mit dem Titel Central Park, die sie vor wenigen Wochen begonnen hatte. Auf einem Teich schaukelten kleine Segelbootmodelle, Buben in kurzen Hosen und Männer in Hemdsärmeln beobachteten aufgeregt und lachend die Spielzeugboote. Sofie betrachtete das Ölbild, wütend, dass ihr Lehrer sie verlassen hatte. Sie fühlte sich jung, rebellisch, wild. In einer Woche würde ihr Unterricht an der Akademie beginnen.
Ihr Herz begann schneller zu klopfen, als sie einen großen Pinsel zur Hand nahm und in gelbe Farbe tauchte. Bald leuchtete der stille See blau und grün mit gelben Flecken, und die vorher weißen Segel blähten sich buntschillernd im Wind. Die hübsche Landschaft explodierte in einem Farbenrausch und lebhaften Bewegungen aus Licht und Farbe. Sofie dachte beim Malen an Monet, dessen Werke sie häufig in der exklusiven Galerie Durand-Ruel in der Stadt gesehen hatte.
Sie war stolz auf ihren ersten Ausflug in die Moderne, stolz und unsicher zugleich und brauchte dringend Aufmunterung und Rückhalt. War sie nur grob und vordergründig, wo Monet feinfühlig und genial war?
Schüchtern erzählte sie Lisa, was sie getan hatte, und wagte ihrer Hoffnung Ausdruck zu geben, dass ihre Kunst eine neue Richtung eingeschlagen hatte und sie ihren Stil gefunden zu haben glaubte. Lisa war ganz aufgeregt und erzählte ihrer Mutter davon, die das Bild unbedingt sehen wollte. Sofie lud Mutter und Schwester in ihr Atelier ein, um das Bild zu zeigen, und versuchte, ihre Aufregung und Angst zu verbergen. Doch das Bild löste bei Mutter und Schwester einen Schock aus.
»Du bist ja verrückt!« hatte Suzanne ausgerufen. »Alle werden sagen, du bist ein verrückter Krüppel! Du darfst so etwas nicht malen, Sofie. Ich verbiete es dir! Hast du verstanden? Wieso malst du nicht wie bisher hübsche Porträts und idyllische Landschaften? Male doch mal wieder ein Porträt von Lisa.«
Sofie hatte sich zerknirscht gefragt, ob die beiden recht hatten, ob ihr Versuch, dem großen Monet nachzueifern, wirklich so abstoßend, schockierend und hässlich war, wie sie behaupteten. Sie hatte das Gemälde fortgeworfen, doch Lisa hatte es gefunden und heimlich auf den Speicher gebracht. Sofie hatte ihr Studium an der Akademie fortgesetzt, und die traditionelle Kunst von Linie und Form, von Licht und Schatten studiert. Nach dem Unterricht hatte sie drei bis vier Stunden täglich im Metropolitan Museum verbracht, um einen alten Meister nach dem anderen zu kopieren.
Aber sie war nicht länger allein. Nach einigen Wochen im ersten Semester freundete Sofie sich mit zwei jungen Mädchen an, die ersten Freundinnen in ihrem Leben. Jane Chandler und Eliza Reed-Wharing, zwei Töchter aus gutem Hause und der Malerei ebenso begeistert zugetan wie Sofie. Die drei Mädchen besuchten gemeinsam Museen und Kunstgalerien. Sie belegten die gleichen Kurse und bereiteten sich gemeinsam auf Prüfungen vor. Die nächsten zwei Jahre waren die glücklichsten und aufregendsten in Sofies bisherigem Leben.
Doch irgendwann war sie es leid, alte Meister zu kopieren. Sie kannte die weibliche Anatomie auswendig. Das Studium der männlichen Anatomie war nicht gestattet. Die Techniken von Kaltnadelradierung und Holzschnitt interessierten sie nicht sonderlich. Sofie wollte etwas Neues ausprobieren, neue Wege gehen. Sie wollte mit Farbe, Licht und Schatten experimentieren.
Sofie teilte den Freundinnen ihre Sehnsüchte mit. Jane, die beabsichtigte, einmal mit ihrem Vater, einem erfolgreichen Kupferstecher, zusammenzuarbeiten, war ganz zufrieden mit dem an der Akademie gelehrten Stil, ebenso Eliza, die Porträtmalerin werden wollte. Beide Mädchen nahmen am Unterricht teil, ohne je Kritik daran zu üben. Vor kurzem hatten beide Mädchen sich mit vielversprechenden jungen Männern aus wohlhabenden Familien verlobt. Die Freundinnen verloren zwar nie ein Wort darüber, Sofie wusste aber, dass sie sich wunderten, warum nicht auch sie sich verlobte. Traurig musste Sofie erkennen, dass ihre Freundinnen sie nicht wirklich verstanden.
»Wenn du so gern deinem eigenem Weg gehen willst, Sofie«, hatte Eliza ihr eines Tages gesagt, »so tu es doch.
Oder hast du Angst davor?«
Sofie hatte Angst. Aber sie hatte auch den Ehrgeiz, ihre Sehnsüchte und Ziele zu verwirklichen. Ihre Suche nach einem geeigneten Sujet hatte sie schließlich bewogen, das Arbeiterviertel aufzusuchen und das
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