Jenseits Der Unschuld
erste Lehrerin erkannte und förderte ihr Talent. Da Miß Holding der Zwölfjährigen nichts mehr beibringen konnte, legte die kluge Frau der Mutter ans Herz, Sofies Begabung zu fördern. Suzanne hielt nichts von der Idee und weigerte sich, einen Lehrer für ihre Tochter zu engagieren.
Sofie hatte nicht lockergelassen, hatte gefleht, gedroht, gekämpft. Seit dem Tod ihres Vaters war sie ein sehr stilles Kind, bescheiden, anspruchslos und in sich gekehrt, nur nicht in diesem Punkt. Suzanne hatte schließlich gedroht, ihr Farben und Pinsel wegzunehmen und ihr zu verbieten, je wieder ein Bild zu malen. Zum Glück war Benjamin Ralston durch den ungewohnten Aufruhr in seinem Haus auf den Streit zwischen Mutter und Tochter aufmerksam geworden und hatte interveniert.
Da Benjamin sich selten in Angelegenheiten einmischte, die die Tochter seiner Frau betrafen - auch nicht in die Angelegenheiten, die seine eigene Tochter betrafen -, konnte Suzanne sich nicht über seine Verfügung hinwegsetzen. Sie fand einen Lehrer für Sofie. Paul Verault lehrte an der Akademie der Schönen Künste und gab Privatunterricht, wenn er einen Studenten für hinreichend begabt hielt.
Verault wusste sofort, dass Sofie seine Zeit und Mühe lohnte. Also begann sie mit dreizehn bei Verault zu studieren und blieb drei Jahre seine Schülerin. Er stellte hohe Ansprüche, war sehr streng, hielt mit seiner Kritik nicht hinter dem Berg und ging mit Lob äußerst sparsam um. Verault bestand darauf, dass Sofie mit den Grundlagen der Malerei begann - mit dem Studium einfacher Gestalt- und Formenlehre. Im ersten Jahr fertigte Sofie ausschließlich Kohlezeichnungen an. Es entstanden etwa fünfhundert Studien aller nur erdenklichen Objekte.
Nach einem Jahr erklärte Verault das Studium der Gestalt- und Formenlehre für beendet. Es sei an der Zeit, sich mit Farben, Licht und Schatten zu befassen. Sofie war überglücklich, da sie Farben über alles liebte. Und Verault staunte, als er erkannte, dass seine Schülerin nicht nur eine durchschnittliche Begabung war; ihr Farbgefühl grenzte an Genialität. Sofie wollte Farben und Lichteffekte in kühner und unkonventioneller Weise einsetzen, was ihr Verault allerdings untersagte. »Eines Tages kannst du originell sein, ma petite, aber erst nachdem du das meisterhaft beherrschst, was ich dich lehre.« Ein Satz, den er in den nächsten Jahren häufig wiederholte, wenn Sofie murrte, weil sie einen alten Meister nach dem anderen in den Museen der Stadt kopieren musste. Sofie wollte Neues erschaffen und nicht ständig Altes kopieren.
Mit sechzehn bestand Sofie die Aufnahmeprüfung an der Kunstakademie, und mit Beginn des Wintersemesters sollte sie bei Verault und einer Reihe anderer berühmter Lehrer studieren. Doch eines Tages kam er mit Tränen in den dunklen Augen bei ihr an. »Ich muss nach Hause, ma petite«, sagte er.
Sofie war völlig entgeistert. »Nach Hause? Nach Frankreich?«
»Oui. Nach Paris, wo meine Familie lebt. Meine Frau ist nicht gesund.«
Sofie rang die Hände, um nicht in Tränen auszubrechen. Sie hatte gar nicht gewusst, dass dieser verschlossene Mann eine Familie hatte. Sie würde ihren Lehrer, ihren Mentor, ihren Freund furchtbar vermissen. »Dann müssen Sie natürlich zurück«, flüsterte sie. »Hoffentlich wird Madame Verault bald wieder gesund.«
»Mach kein trauriges Gesicht, meine Kleine.« Verault nahm sie bei der Hand. »Du hast alles von mir gelernt, was ich dir beibringen kann, ma chere«, sagte er und tätschelte ihr die Hand. »Das habe ich auch meinem Freund Andre Vollard in meinem letzten Brief geschrieben.«
Vollard war ein Pariser Kunsthändler, den Verault hin und wieder erwähnt hatte. »An der Akademie hast du andere wichtige Lehrer«, fuhr Verault fort, »von denen du lernen wirst, auch von anderen Studenten und nicht zuletzt vom Leben und von dir selbst.« Er lächelte. »Aber du brauchst Geduld, ma petite. Viel Geduld. Eines Tages wirst du frei mit Farben arbeiten können, wie du es dir ersehnst. Du bist jung und hast viel Zeit. Arbeite fleißig bei deinen neuen Lehrern. Und wenn du nach Paris kommst, musst du mich besuchen.«
Nachdem Verault abgereist war, weinte Sofie um den Verlust ihres besten Freundes - ihres einzig wahren Freundes. Eine ganze Woche konnte sie keinen Pinsel in die Hand nehmen, konnte nicht einmal ans Malen denken, so traurig war sie. Er war der einzige Mensch, der sie seit dem Tod ihres Vaters verstanden hatte.
Als sie in ihr Atelier
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