Jenseits Der Unschuld
gegenüber von Sofies Standpunkt lehnte ein beleibter Lebensmittelhändler in der Tür seines Ladens und beobachtete die Passanten und die Malerin, während er gleichzeitig seine ausgestellten Waren bewachte. Seit Juni kam Sofie regelmäßig hierher, um zu malen. Anfangs war sie von den Leuten neugierig gegafft, worden, mittlerweile hatte man sich jedoch an die junge Frau mit der Staffelei gewöhnt.
Seufzend hielt Sofie inne. Auf die Leinwand fielen bereits erste Schatten der tieferstehenden Sonne. Sie warf einen flüchtigen Blick auf die Taschenuhr, die mit offenem Deckel auf dem Klapptisch lag, neben Farbtuben, Pinseln, Lappen und sonstigen Malutensilien. Es wurde Zeit aufzubrechen. Miß Ames hatte sich für den späteren Nachmittag angekündigt, um ihr Porträt abzuholen, und Sofie wollte die alte Dame nicht warten lassen.
Dennoch zögerte sie, ihre Sachen zusammenzupacken. Sie betrachtete ihr Werk kritisch. Eigentlich war nichts an dem Bild auszusetzen. Die beiden plumpen Frauengestalten im Vorgarten des Mietshauses waren perfekt getroffen.
Müde, verhärmte Frauen in abgetragenen, geflickten Kattunkleidern. Mrs. Guttenberg trug eine rote Schürze, der einzige Farbfleck in dem in düsterem Grau und Braun gehaltenen Bild, auf dem nur die Sonnenflecken auf dem Gehsteig neben der Gestalt in der roten Schürze hell hervorstachen. Aber irgendetwas fehlte dem Bild.
Und Sofie wusste genau, was ihm fehlte. Sie war vom Thema nicht mehr so fasziniert wie zu Beginn. Ein anderes Sujet würde sie weit mehr begeistern, doch daran wagte sie nicht einmal zu denken. Denn dieses Sujet war Edward Delanza.
Nein. Sie würde ihn nicht malen.
Vor mehr als einer Woche war sie in die Stadt zurückgekehrt, hatte das Bild von Miß Ames fertiggestellt und unermüdlich an der Straßenszene gearbeitet, ohne diesen Mann aus ihren Gedanken verbannen zu können. Dabei hatte sie alles in allem nicht länger als eine Viertelstunde mit ihm geredet. Und dennoch spukte er ihr unentwegt im Kopf herum.
Edward Delanza war ein Prachtexemplar von einem Mann und wie geschaffen für ein Modell. Sofie legte den Pinsel aus der Hand. Wie sollte sie der Versuchung widerstehen, ihn zu malen? Wie nur?
Sofie zwang ihre Gedanken wieder auf ihr Genrebild zurück, das sie vor Ende des Sommers fertig haben wollte.
Noch nie zuvor hatte sie eine Straßenszene gemalt und würde vermutlich in nächster Zeit keine weitere Gelegenheit dazu finden. Suzanne hätte niemals ihre Einwilligung gegeben, dass Sofie sich in diesem Viertel auf die Straße stellte, um eine Alltagsszene von Arbeitern und einfachen Emigranten festzuhalten.
Sofie malte das Bild heimlich und ohne Erlaubnis. Nicht von ungefähr hatte sie für ihr Vorhaben die Sommermonate gewählt, in denen Suzanne sich in Newport aufhielt und die Gefahr gering war, dass sie davon erfuhr.
Sofie schwänzte den Unterricht in der Akademie. Die Kunst und Technik des Kupferstechens, das in diesem Sommer auf dem Vorlesungsplan stand, interessierte sie nicht sonderlich, deshalb hatte sie sich sechs Wochen freigenommen.
Der Kutscher wartete in einiger Entfernung. Sofie hatte Billings weisgemacht, das Bild sei eine Arbeit für die Akademie. Wahrscheinlich glaubte er ihr kein Wort, dennoch hatte er sich bereit erklärt, sie zu begleiten, da er fürchtete, sie würde auch ohne seine Einwilligung und Begleitung hierhergekommen sein, um zu malen. Die Bediensteten im Hause Ralston kannten Sofie, seit sie neun Jahre alt war, und wussten um ihre Leidenschaft für die Malerei.
Ihr Stiefvater Benjamin Ralston war ein leidenschaftlicher Sammler vorwiegend amerikanischer Kunst, der aber auch einige Werke französischer Maler des neunzehnten Jahrhunderts erworben hatte, darunter Landschaften von Millet und Rousseau, ebenso Werke berühmter Salonmaler wie Couture und Cabanel. Die erste Ausstellung moderner französischer Maler, der sogenannten impressionistes in New York im Frühjahr 1886, von der Kritik hochgelobt, hatte bei Benjamin Ralston einen tiefen Eindruck hinterlassen. Nach der Ausstellung hatte er einen Pissaro und einen Degas erstanden und in den folgenden Jahren seiner Sammlung einen zweiten Degas und ein Stillleben von Manet hinzugefügt. Sofie war von den Kunstschätzen ihres Stiefvaters hingerissen und besuchte seine Galerie häufig, um die Werke zu bewundern.
Als kleines Kind hatte Sofie wie alle Kinder bunte Bilder mit Wasserfarben gemalt und erhielt neben anderen Fächern auch Zeichen- und Malunterricht. Ihre
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