Jenseits Der Unschuld
St. Lazare, den Zettel mit Paul Veraults Adresse in der Hand. Ihr Herz schlug heftig. Nicht nur vor Freude, ihren Lehrer wiederzusehen, sondern vor Begeisterung und Aufregung, endlich in Frankreich zu sein.
Um sie herum herrschte reges Treiben. Menschen strömten in Scharen zu den Zügen oder verließen den größten Bahnhof von Paris. Der Gepäckträger neben ihr winkte eine schwarze Droschke an der Spitze der Warteschlange heran. Als sie ihm Veraults Adresse nannte, hatte er gemeint, es sei nicht weit und sie könne die Metro nehmen.
Sofie, ermüdet von der langen Bahnfahrt von Le Havre und natürlich auch von der Seereise über den Atlantik, hatte dankend abgelehnt.
Mit großen Augen betrachtete sie den dichten Verkehr in der Rue d'Amsterdam, der sich kaum vom hektischen Getriebe jeder anderen Weltmetropole unterschied: Mietdroschken, Kutschen, elegante Equipagen zwischen ratternden Automobilen; Eselskarren, Pferdefuhrwerke und die elektrische Straßenbahn verursachten einen höllischen Lärm.
Die schlanken, zierlichen Französinnen waren attraktiv und sehr modebewusst und die eleganten dunkelhaarigen Männer standen ihnen in Modefragen in nichts nach. All die Menschen und das melodische, schnell gesprochene Französisch vermittelten Sofie erste aufregende Eindrücke des weltberühmten Pariser Flairs.
Sofie wusste, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Zum ersten Mal seit drei Monaten ließ der Schmerz in ihrer Brust ein wenig nach.
»Wir sollten vorher die Pension aufsuchen«, meldete Sofies Reisebegleiterin sich griesgrämig zu Wort.
Sofie wandte sich seufzend der ewig mürrischen Mrs. Crandal zu. Suzanne hatte die stattliche Witwe in mittleren Jahren angestellt, um ihre Tochter auf der Überfahrt nach Europa zu begleiten und solange bei ihr zu bleiben, bis Sofie eine Gesellschafterin in Paris gefunden hatte. Sofie hatte Anweisung, eine Französin in ihre Dienste zu nehmen, von der nicht zu erwarten war, dass sie je nach New York kommen würde. Falls diese Möglichkeit bestand, musste ausgeschlossen sein, dass sie sich in gehobenen Gesellschaftskreisen bewegte, um zu verhindern, dass sie Sofies Geheimnis ausplaudern konnte. »Ich schlage vor, Sie fahren in die Pension, und ich komme nach, wenn ich mit Monsieur Verault gesprochen habe«, schlug Sofie vor.
»Aber Miss, ich bin Ihre Aufsichtsperson! « entrüstete Mrs. Crandal sich.
Sofie lächelte dünn. Wie konnte sie das vergessen?
Seit Oktober wusste Sofie, dass sie schwanger war. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Gott ihre Gebete erhört.
Bei all ihrem Kummer hatte sie ein jauchzendes Glücksgefühl erfüllt, und sie hatte sich umgehend ihrer Mutter anvertraut. Suzanne hatte die Nachricht mit versteinerter Miene aufgenommen und beschlossen, Sofie müsse nach Paris reisen, bevor erste Anzeichen ihrer Schwangerschaft sichtbar wurden, und Sofie hatte New York fluchtartig verlassen. Sie war vor ihm geflohen und dem hässlichen Klatsch, der über ihn kursierte.
Das Gerede war ihr gleichgültig, doch Suzanne schien nicht zu bemerken, dass sie Salz in Sofies blutende Wunden streute, wenn sie nur Edwards Namen erwähnte. Sofie musste sich alles über seine Skandale anhören - seine Affären mit Frauen, seine betrunkenen Auftritte, und, und, und. Er besuchte häufig die Oper, jedes Mal in anderer Damenbegleitung, meist mit einer Sängerin oder Schauspielerin, gelegentlich auch einer Prostituierten. Sofie hatte gehört, dass er ein Vermögen am Spieltisch verloren hatte. Manchmal zeigte er sich auch in Hilary Stewarts Begleitung. Von der vornehmen Gesellschaft wurde er kaum noch empfangen, was ihn nicht kaltlassenwürde, wie Sofie ihn einschätzte. Die Ächtung einer Gesellschaft, die ihn noch vor kurzem bewundert und beneidet hatte, war ihm mit Sicherheit nicht gleichgültig.
Die befremdlichste Nachricht war, dass er ein großes Grundstück, Ecke 78. Straße und Fifth Avenue erworben hatte. Die Bauarbeiten zu einem Herrenhaus hatten bereits begonnen; eine Villa, die einem der drei pompösen Häuser der Vanderbilts möglicherweise den Rang ablaufen würde.
Sofie hatte sich gefragt, ob er die Absicht hatte, in diesem riesigen Haus allein zu leben, oder ob er seine Meinung geändert hatte, heiraten und eine Familie gründen wollte. Bei diesem Gedanken waren ihr jedes Mal Tränen in die Augen geschossen. Doch das war vorbei. Ihre Vernunft hämmerte ihr immer wieder ein, dass sie nie glücklich geworden wäre, wenn sie seinen Antrag angenommen
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