Jenseits Der Unschuld
hätte, da er sie nur aus Pflichtgefühl geheiratet hätte, nicht aus Liebe.
Mrs. Crandal zupfte sie ungeduldig am Arm. »Wenn Sie darauf bestehen, Ihren Lehrer zu besuchen, sollten Sie nicht länger trödeln! «
Der Träger verstaute das Gepäck in der Droschke, als letztes einen riesigen Schiffskoffer, der Sofies Malausrüstung enthielt. Sofie rief ihm zu: »S'il vous plait, monsieur! Vorsicht mit dem großen Koffer!«
Dann bestieg sie die Droschke und versuchte, nicht an Edward zu denken, was ebenso vergeblich war, wie das Atmen einzustellen. Entschlossen beugte sie sich vor und blickte aus dem Fenster, um die ersten Eindrücke von der Stadt aufzunehmen, nach der sie sich seit Jahren gesehnt hatte.
»Monsieur, oü est ca?« fragte Sofie, deren Französisch nicht fließend, aber recht passabel war.
Der Kutscher drehte sich zu ihr um. Er war jung und dunkel gelockt, trug kniehohe Stiefel, eine braune Wolljacke und eine kecke, schwarze Mütze. »Ce n'est pas loin, Mademoiselle«, antwortete er. »Die Adresse ist auf dem Butte.«
»Auf dem Butte?« wiederholte Sofie fragend.
»Montmartre«, erklärte der Kutscher, musterte sie erneut und fügte hinzu: »Pour vous?« Er schüttelte den Kopf.
»Beaucoup des Bohemes, Mademoiselle. Pas bien pour une jeune lille. «
Sofie erschrak. Hatte er damit gemeint Montmartre sei keine geeignete Gegend für sie? Dummerweise sprach auch Mrs. Crandal ziemlich gut französisch - aus diesem Grund hätte Suzanne sie unter den Bewerberinnen ausgewählt.
»Bohemiens! Ihr Lehrer wohnt unter liederlichen Boherniens!« rief sie, aschfahl im Gesicht. »Wir sollten sofort kehrtmachen!«
»Paul Verault ist mein Freund«, entgegnete Sofie leise, aber bestimmt. Seit sie die weite Reise angetreten hatte, war er mehr als nur ein Freund, er war ihre einzige Zuflucht geworden. Sie hatte vor, sich wieder ganz ihrer Malerei zu widmen, um den Erinnerungen an Edward zu entfliehen. Das war freilich leichter gesagt als getan. In den letzten Monaten hatte sie immer wieder versucht zu arbeiten, doch es fehlte ihr die Leidenschaft, und ihre redlichen Bemühungen hatten nichts als klägliche Stümpereien hervorgebracht. Der Verkauf von Junger Mann am Strand hätte ihr Ansporn sein müssen, um ihre Schaffenskraft zu beflügeln, doch nichts dergleichen war geschehen.
»Sie sagten, er sei Ihr Mallehrer!« entgegnete Mrs. Crandal bissig.
»Ja. Und mein Freund.« Dabei wusste Sofie gar nicht, ob der Brief, in dem sie Paul ihre Ankunft mitteilte, ihn überhaupt schon erreicht hatte. Sie hatte ihn nur eine Woche vor ihrer Abreise zur Post gebracht.
Die Kutsche bog auf die Place de Clichy ein. Sofie bewunderte die alte Kirche an der Südseite des Platzes, ehe der Wagen nach rechts in den Boulevard de Clichy abbog. Ihr Herz schlug schneller. Bars und Kaffeehäuser säumten die Straße, und obgleich es ziemlich kühl war, standen Tische und Stühle im Freien, die meisten von lärmenden Gästen besetzt.
Ein Theater machte Reklame für die allabendlichen Darbietungen der unvergleichlichen Madame Coco. Aus einem Cafe kam eine Gruppe nachlässig gekleideter junger Männer, die einander unterhakten und einen französischen Gassenhauer grölten. In der offenen Haustür daneben lehnte eine hübsche junge Frau in kurzen Röcken, die von den jungen Männern johlend begrüßt wurde. Einer von ihnen zog sie an sich und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sofie ahnte, was er von ihr wollte, und errötete verlegen.
Wo war sie hingeraten? Wohnte Paul Verault hier mit seiner Familie? Montmartre schien wahrhaftig eine verrufene Gegend zu sein.
Mrs. Crandal sprach Sofies bange Gedanken laut aus. »Hier können wir unmöglich aussteigen! Auf den Straßen treiben sich nur Tagediebe, Trunkenbolde und leichte Mädchen herum. Sofie?«
Die Droschke bog um eine Ec ke und fuhr an einer Bar vorbei, die brechend voll zu sein schien. Das Geklimpere eines Klaviers, lautes Singen und Lachen drangen bis auf die Straße. Ein rotes, riesiges Schild über dem Eingang war nicht zu übersehen: Moulin Rouge. Sofies Herz machte einen Satz. Der kürzlich verstorbene Maler Toulouse-Lautrec war Stammgast in diesem Etablissement gewesen. In New York hatte sie eines seiner Plakate für das berüchtigte Variete Moulin Rouge gesehen und hatte Toulouse-Lautrecs bewegte, kühne Linienführung bewundert.
Sofies Aufregung wuchs. Gütiger Himmel, sie war leibhaftig in Paris, der Stadt der großen Maler. Hier war David geboren, hier hatten Corot und Millet
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