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Jenseits der Untiefen

Jenseits der Untiefen

Titel: Jenseits der Untiefen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Favel Parrett
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hoffte, sie würden ordentlich wehtun, ihre fetten Beine. Ihre geschwollenen Knöchel, die über ihre Schuhe schwappten. Diese ganze Flüssigkeit, die sich beim Gehen bewegte. Bewegte, aber nie verschwand.
    »Geh und hol mir ein Handtuch aus dem Schrank«, sagte sie auf einmal, und als Miles aufsah, starrte sie ihn direkt an.
    Er drehte sich weg und ging den Flur hinunter. Der Wäscheschrank war riesig, es gab stapelweise Laken, Kissenbezüge und Decken, und Miles wusste nicht, wozu die alle überhaupt gebraucht wurden. Tante Jean lebte allein. Sie war seit einer Ewigkeit allein, seit Onkel Nick nicht mehr da war, und außer ihnen kam nie jemand zu Besuch, und sie blieben nicht über Nacht. Niemals.
    Die Handtücher lagen in einem Fach auf Augenhöhe, und sie waren alle weiß. Es gab keine anderen Farben, noch nicht einmal Beige. Es war seltsam. Miles zog ein Handtuch heraus, aber sie waren so dicht einsortiert, dass etwa fünf mit herauskamen und auf den Boden fielen. Als er sich bückte, um sie aufzuheben, sah er unten im Schrank eine Holzkiste. Es war eine große Kiste, ganz nach hinten geschoben – altes Holz, dunkel wie Schwarzholzakazie. Er sah sie zum ersten Mal.
    Er schaute in den Flur. Er konnte Tante Jean reden hören, aber die Küchentür war angelehnt, sodass er sie nicht sah.
    Er hockte sich hin und zog die Kiste hervor. Sie hatte Messinggriffe, und auf dem Deckel waren Blumen eingraviert.
    In der Kiste lagen sorgsam gefaltete Sachen.
    Weiche Sachen.
    Es waren lauter Babysachen.
    »Miles! Das Handtuch!«
    Miles schloss den Deckel und stellte die Kiste wieder an ihren Platz. Er nahm eines der Handtücher und schob die anderen, ohne sie zusammenzufalten, ins Fach zurück.
     
    Während Tante Jean ihm die Haare schnitt, starrte er geradeaus. Sie redete ohne Unterlass, sie redete davon, dass sie Großvaters Haus verkaufen mussten, aber er dachte noch immer an die Kiste. Er dachte an die kleinen Decken und die Babysachen und wie makellos und sauber und unbenutzt alles war.
    »Was soll ich denn machen? Was soll ich denn machen?«, sagte sie immer wieder.
    Und er hörte ihre Stimme höher werden, und dann kamen wie gewohnt die Tränen.
    »Ich bin in diesem Haus aufgewachsen, Miles. Hab ich nicht was Besseres verdient?«
     
    Harry saß auf dem Rand der Badewanne, als Miles ins Bad kam.
    »O Gott«, sagte Harry. Seine Locken waren verschwunden, seine Augen wirkten größer als sonst, unter dem kurzen Haar. Und Miles musste grinsen über die Art, wie Harry »O Gott« sagte und darüber, wie schrecklich sie beide aussahen, wie frischgeschorene Schafe.
    Mum hatte Harry die Haare nie so kurz geschnitten. Sie hatte zu ihm gesagt, dass Locken Glück brachten und man sie wachsen lassen sollte. Harry mochte das, und er glaubte ihr. Er glaubte alles. Er ließ sie sogar jeden Abend seine Haare kämmen, ohne sich zu beschweren.
    Sogar Dad hatte ihm damals die Haare gekämmt, um zu verhindern, dass sie verfilzten.
    Miles wusch sich Nacken und Gesicht mit einem feuchten Tuch, um die Haare loszuwerden, bevor sie anfingen zu kitzeln. Sein Schnitt war extrem kurz. Sie hätte auch gleich den Rasierer ansetzen können.
    »Das war das letzte Mal«, sagte Miles.
    Harry nickte, sah aber nicht überzeugt aus.

M ittags war der Schuppen halb leer. Der
Wegwerfen
-Haufen draußen auf dem Rasen war viel kleiner als der
Behalten
-Haufen, dafür hatte Miles gesorgt. Er hatte mit Joe über jedes Möbelstück und jedes Werkzeug diskutiert und gesagt, es wäre nicht richtig, irgendwas von Großvaters Sachen wegzuschmeißen. Harry war seiner Meinung, aber er hatte nichts gesagt. Er versuchte sich rauszuhalten. Er wartete auf dem Rasen, bis ihm jemand sagte, was er wegräumen sollte oder was er anfassen durfte und wohin er die Sachen bringen musste, weil er immerzu alles falsch machte. Die meisten Sachen im Schuppen waren zu schwer für ihn, und der Schuppen war dunkel und voller Spinnweben, und Harry wusste, dass dort auch Spinnen waren. Vom Holzschleppen hatte er sich schon zwei Splitter eingezogen, weil es keine Handschuhe gab, die ihm gepasst hätten. Sie waren alle zu groß. Er hätte einfach zu Stuart gehen sollen.
    Joe brachte die erste Ladung Müll auf die Halde, und Harry überlegte, ob er ins Haus gehen und sich eine Weile hinsetzen sollte. Es war kalt, und der Wind kam von der Bucht herein, und Miles war schon seit einer Ewigkeit im Schuppen und hatte nicht mehr nach ihm gerufen. Vielleicht war er auch ins Haus gegangen, ohne dass

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