Jenseits der Untiefen
er.
Miles sah, wie Mr Roberts die Straße überquerte und in den Pub ging. Er war groß. Er sah aus wie ein Bär, und Dad mochte ihn nicht besonders. Niemand mochte ihn, seit er mit Abalonen reich geworden war und drei Boote gekauft, ein neues Haus gebaut und seine Kinder auf eine Privatschule geschickt hatte. Aber es war merkwürdig. Mr Roberts schien es nicht zu kümmern, was andere Leute von ihm dachten. Es schien ihm nichts auszumachen. Die Art, wie er ging, wie er redete und lachte, war so, als hätte er vor nichts Angst. Und vielleicht hatte er wirklich vor nichts Angst.
Die Leute sagten, er hätte Glück gehabt, aber Miles glaubte, dass es Klugheit war. Er hatte sich alles so langsam aufgebaut, dass niemand es mitbekommen hatte. Und er hatte, anders als alle anderen, nicht an die Fischfabrik verkauft. Er hatte seinen Fang nach Hobart geschafft, wo die größeren Abalone mehr Geld einbrachten und schockgeforen nach Asien verschickt wurden, im Ganzen, mit Schale und allem.
Angefangen hatte er wie die anderen – damals, als auch Dad und Nick angefangen hatten.
Miles setzte sich auf den Beifahrersitz von Mr Roberts Kombi und lutschte ein Mentholbonbon. Es war das neueste und schickste Auto, in dem er je gesessen hatte. Die Sitzbezüge waren aus dickem, weichem Stoff, und sobald sie losfuhren, kam warme Luft aus der Heizung.
»Mr Roberts? Meine Sachen sind noch ziemlich nass. Soll ich auf einem Handtuch sitzen oder so?«
Mr Roberts schüttelte den Kopf. Er schlug sich aufs Bein, um zu zeigen, dass seine Hosen auch nass waren. »Meine sind immer ein bisschen klamm«, sagte er. »Wie auch immer, sag Brian zu mir. Niemand nennt mich Mr Roberts, mit Ausnahme von Justins neuer Direktorin. Ich habe ihren Namen vergessen. Cleary oder so was. Eine echte Schnepfe.«
Mr Roberts lachte, und Miles musste auch lächeln. Es war schwer, sich Justin Roberts auf einer Privatschule vorzustellen, in Uniform und Schlips, bei dem langen, zotteligen Haar, das ihm über die Augen hing, sodass darunter nur sein großer Mund und die Zähne herausguckten.
»Geht’s ihm gut?«, fragte Miles.
»Das Einzige, was ihm gefällt, ist sein Football-Team. Ist wohl ganz gut. War noch nicht da, um mir ein Spiel anzusehen, aber er wird nächste Woche hier sein. Ihr Jungs solltet euch zum Surfen verabreden.«
Miles nickte, obwohl er wusste, dass Justin und er sich wahrscheinlich nicht treffen würden. Er hatte Justin schon ewig nicht mehr gesehen, jedenfalls nicht draußen auf dem Wasser. Sie waren mal befreundet gewesen und hatten zusammen gesurft, aber das schien lange her. Ein halbes Leben.
Mr Roberts fuhr langsam, auch dort, wo die Straße keine Kurve machte. Er hielt immer dieselbe Geschwindigkeit, seine Knie stießen ans Lenkrad, seine Hände lagen locker obendrauf. Die Fenster waren getönt, aber nur leicht, sodass der graue Himmel wie tiefes Nachtblau aussah. Miles wäre gern ewig so weitergefahren. In den warmen Sitz gelehnt, während er Mr Roberts zuhörte. Er wäre gern so lange weitergefahren, bis es keine Straße mehr gab.
Und dann sah er die Blumen in der engen Kurve vor dem Fluss. Sie waren an einen Baum gebunden. Weiße Lilien, direkt vor ihm, sie hingen an einem Eukalyptusbaum am Ufer. Miles verschluckte sich an seinem Bonbon. Wie verrückt zog er am Türgriff, spürte, wie sich das Auto dem Straßenrand näherte, und als er die Tür endlich aufbekam, lehnte er sich hinaus und hustete Schleim und Spucke hervor und was sonst noch vom Menthol übrig geblieben war.
»Meine Güte! Alles in Ordnung?«
Mr Roberts war ausgestiegen. Er war um das Auto herumgegangen und stand am Straßenrand. Miles konnte nicht sprechen. Er wischte sich den Mund ab und ließ sich wieder in den Sitz zurückfallen. Er wollte Mr Roberts nicht ansehen und versuchte, nicht nach draußen zu schauen, aber sein Blick kehrte immer wieder zu diesem Baum zurück, er starrte den Baum und die Lilien an, bis er sicher war, dass sie tatsächlich da waren. Dass die Blumen wirklich dort hingen.
So, wie sie dort gehangen hatten, nachdem sie gestorben war. Monatelang. Frische Lilien.
Mr Roberts ließ sich mit dem Einsteigen Zeit, und als er wieder im Auto saß, ließ er den Motor nicht an.
»Hab den Bonbon in den falschen Hals gekriegt«, sagte Miles.
Mr Roberts sagte nichts. Keinen Mucks. Er gab Miles ein Taschentuch.
»Ich kann hier nie vorbeifahren, ohne an sie zu denken, weißt du? Ohne an deine Mutter zu denken. Es muss verdammt schlimm
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