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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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bevor die Erkenntnis, welche Ziele und Zwecke der Nuncio tatsächlich verfolgte, Fletchers Triumph zunichte gemacht hatte. Sie betrachteten den Himmel und hörten Mozart zusammen. Alle Geheimnisse, hatte Fletcher während einer der ersten Lektionen gesagt, waren Fußnoten der Musik. Musik kam vor allem anderen.
    Von nun an würde es keinen erhabenen Mozart mehr geben, keine Himmelsbeobachtungen, keine liebevolle Ausbildung. Es blieb nur noch Zeit für einen Schuß. Fletcher holte die Pistole, die neben dem Meskalin in der Schreibtischschublade lag.
    »Müssen wir sterben?« sagte Raul.
    Er hatte gewußt, daß das kommen würde. Aber nicht so
    schnell.
    »Ja.«
    »Wir sollten hinausgehen«, sagte der Junge. »Zur Klippe.«
    »Nein. Keine Zeit. Ich... ich muß noch einiges erledigen, bevor ich dir folge.«
    »Aber du hast gesagt, gemeinsam.«
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    »Ich weiß.«
    »Du hast es versprochen, gemeinsam.«
    »Mein Gott, Raul! Ich habe doch gesagt: Ich weiß! Aber ich kann nicht anders. Er kommt. Und wenn er dich mir
    wegnimmt, tot oder lebendig, wird er dich benützen. Er wird dich auseinandernehmen. Um herauszufinden, wie der Nuncio in dir funktioniert!«
    Er wollte mit seinen Worten angst machen, und das gelang ihm. Raul schluchzte und verzog das Gesicht vor Entsetzen. Er wich einen Schritt zurück, als Fletcher die Pistole hob.
    »Ich folge dir bald«, sagte Fletcher. »Ich schwöre es. So schnell ich kann.«
    »Bitte, Vater...«
    »Ich bin nicht dein Vater! Ein für allemal, ich bin niemandes Vater!«
    Sein Ausbruch löste jeglichen Einfluß, den er auf den Jungen hatte. Bevor Fletcher auf ihn zielen konnte, sprang Raul zur Tür hinaus. Er schoß dennoch, aber die Kugel schlug in die Wand ein; dann setzte er zur Verfolgung an und schoß ein zweites Mal. Aber der Junge war behende wie ein Affe. Er hatte das Labor durchquert und war draußen im Freien, bevor ein dritter Schuß abgefeuert werden konnte. Im Freien, dann fort.
    Fletcher warf die Pistole weg. Wenn er Raul verfolgte, würde er die wenige Zeit vergeuden, die ihm noch blieb. Diese Minuten sollte er besser nutzen, den Nuncio wegzuschaffen. Es war erbärmlich wenig von der Substanz vorhanden, aber ausreichend, die Evolution in jedem Organismus, mit dem sie in Berührung kam, zum Amoklauf anzuregen. Er schmiedete schon seit Tagen und Nächten Ränke dagegen und überlegte sich die sicherste Methode, die Substanz wegzuschaffen. Er wußte, er konnte sie nicht einfach wegschütten. Was konnte sie anrichten, wenn sie in den Boden gelangte? Seine größte Hoffnung, entschied er - sogar seine einzige Hoffnung - war es, 48
    den Stoff in den Pazifik zu werfen. Diese Vorstellung hatte etwas erfreulich Abgerundetes an sich. Der lange Weg zur momentanen Evolutionssprosse der Rasse hatte im Meer
    angefangen, und dort hatte er auch - in den Myriaden
    Erscheinungsformen bestimmter Meerlebewesen - zum ersten Mal den Lebewesen eigenen Drang bemerkt, sich zu etwas anderem zu entwickeln. Indizien, deren Lösung die drei Phiolen mit dem Nuncio waren. Jetzt würde er die Antwort dem Element zurückgeben, welches sie inspiriert hatte. Der Nuncio würde buchstäblich zu Tropfen im Ozean werden, seine Macht so verdünnt, daß sie praktisch vernachlässigbar wurde.
    Er ging zu dem Labortisch, wo die drei Phiolen noch auf ihrem Halter standen. Gott in drei Flaschen, milchig blau, wie ein Himmel von della Francesca. Es herrschte Bewegung in dem Destillat, als würde es seine eigenen internen Gezeiten erzeugen. Wenn es wußte, daß er kam, kannte es auch seine Absichten? Er wußte so wenig über seine eigene Schöpfung.
    Vielleicht konnte sie seine Gedanken lesen.
    Er blieb wie angewurzelt stehen, weil er immer noch so sehr Mann der Wissenschaft war, daß ihn dieses Phänomen faszinierte. Er hatte gewußt, daß die Flüssigkeit von Macht erfüllt war, aber daß sie die Gabe der Selbstfermentierung besaß, die sie jetzt zur Schau stellte - sogar eine primitive Antriebskraft, schien es; sie kroch an den Wänden der Phiole hinauf -, erstaunte ihn. Seine Entschlossenheit geriet ins Wanken. Hatte er wirklich das Recht, der Welt dieses Wunder vorzuenthalten?
    War sein Begehr wirklich so ungesund? Schließlich wollte es nur den Ablauf der Dinge beschleunigen. Fell aus Schuppen machen. Fleisch aus Fell. Möglicherweise Seele aus Fleisch.
    Ein schöner Gedanke.
    Dann dachte er an Randolph Jaffe aus Omaha, Nebraska, ehemals Schlachter und Student von Postirrläufern; Sammler anderer Leute Geheimnisse.

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