Jenseits des Bösen
erforderte beachtlichen Mut von Seiten Rauls, seine Ur-Angst vor dem Feuer zu überwinden. Er tat es für seinen Vater. Er hätte es für keinen anderen getan.
Fletcher legte Raul zerknirscht einen Arm um die Schulter. Der Junge klammerte sich an ihn, wie er sich in seiner früheren Inkarnation festgeklammert hatte, und vergrub das Gesicht im Geruch des Menschen.
»Wir sollten sie einfach davonfliegen lassen«, sagte Fletcher, der zusah, wie ein Windstoß Blätter vom Feuer wirbelte und wie die Seiten eines Abreißkalenders fortwehte, Tag für Tag Schmerz und Inspiration. Selbst wenn eine oder zwei gefunden werden würden, was an diesem einsamen Strandabschnitt unwahrscheinlich war, würde niemand ihren Sinn entziffern können.
Nur seine Besessenheit war dafür verantwortlich, daß er die Unterlagen vollkommen vernichten wollte. Und sollte nicht ausgerechnet er das besser wissen, war doch gerade seine Besessenheit eine der Eigenschaften gewesen, die mit verantwortlich dafür war, daß diese Verschwendung und Tragödie überhaupt erst entstanden waren?
Der Junge löste sich von Fletcher und drehte sich wieder zu den Feuern um.
»Nein, Raul...« sagte er. »... laß sie... laß sie fortwehen...«
Der Junge hörte nicht auf ihn; ein Trick, den er schon immer beherrscht hatte, schon vor den Veränderungen, die der Nuncio mit sich gebracht hatte. Wie oft hatte Fletcher den Affen gerufen, der Raul vorher gewesen war, nur damit das elende Tier ihn absichtlich mißachtete? Zu einem Großteil war eben diese Perversion dafür verantwortlich, daß Fletcher die Große 45
Arbeit an ihm erprobt hatte: das Flüstern des Menschseins in dem Affen, aus dem der Nuncio ein Brüllen gemacht hatte.
Raul machte jedoch keinen Versuch, die verstreuten Blätter einzusammeln. Sein kurzer, untersetzter Körper war verkrampft, er hatte den Kopf geneigt. Er schnupperte in der Luft.
»Was ist?« fragte Fletcher. »Witterst du jemanden?«
»Ja.«
»Wo?«
»Er kommt vom Berg.«
Fletcher zweifelte nicht an Rauls Feststellung. Die Tatsache, daß er, Fletcher, nichts hören oder riechen konnte, war lediglich ein Beweis dafür, wie verkümmert seine Sinne waren. Er mußte auch nicht fragen, aus welcher Richtung ihr Besucher kam. Es führte nur ein Weg zur Mission. Eine Straße durch so feindseliges Gelände und dann den steilen Berg hinauf anzule-gen, mußte selbst den Masochismus der Jesuiten auf eine harte Probe gestellt haben. Sie hatten eine Straße gebaut und die Mission, und dann hatten sie die Siedlung verlassen - vielleicht, weil sie Gott hier oben nicht gefunden hatten. Wenn ihre Gespenster noch hier umgingen, dachte Fletcher, würden sie heute eine Gottheit finden, drei Phiolen voll blauer Flüssigkeit.
Ebenso wie der Mann, der jetzt den Berg heraufkam. Es konnte nur Jaffe sein. Sonst wußte niemand, daß sie hier oben waren.
»Der Teufel soll ihn holen«, sagte Fletcher. »Warum jetzt?
Warum ausgerechnet jetzt?«
Es war eine alberne Frage. Jaffe hatte beschlossen, jetzt zu kommen, weil er wußte, daß eine Verschwörung gegen seine Große Arbeit im Gange war. Er konnte selbst an Orten präsent sein, wo er nicht leibhaftig war; ein spionierendes Echo seiner selbst. Fletcher wußte nicht, wie er das machte. Zweifellos einer von Jaffes Sprüchen. Die Art unbedeutender geistiger Tricks, die Fletcher früher als Bauernfängerei abgetan hätte, wie er vieles andere ebenso abgetan hätte. Jaffe würde noch ein paar Minuten brauchen, um ganz den Berg heraufzukommen, 46
aber das würde bei weitem nicht ausreichen, daß Fletcher und der Junge ihre Aufgabe zu Ende bringen konnten. Es gab nur noch zwei Dinge, die er vollenden konnte, wenn er zielstrebig genug vorging. Beide waren lebenswichtig. Zuerst mußte er Raul töten und wegschaffen, da ein ausgebildeter Forscher in seinem Körper die Natur des Nuncio erkennen mochte. Und als zweites mußte er die drei Phiolen in der Mission vernichten.
Dorthin begab er sich nun durch das Chaos, das er mit Freuden über den Ort gebracht hatte. Raul folgte ihm, er schritt barfuß durch die zertrümmerten Instrumente und zersplitterten Möbel zum Inneren des Sanktuariums. Dies war das einzige Zimmer, in dem sich das Wirrwarr der Großen Arbeit nicht breitgemacht hatte. Eine kahle Zelle, in der sich nur ein Schreibtisch, ein Stuhl und eine veraltete Stereoanlage befanden. Der Stuhl stand vor einem Fenster mit Blick aufs Meer. Hier saßen Mann und Junge in den ersten Tagen nach Rauls Verwandlung,
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