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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Drohungen oder Verführungskünste von Akademikern erhalten hatte, die ihm gaben, was er verlangte, nur damit Jaffe den Blick von ihnen nahm - waren vernichtet, Labortische mit einer Armbewegung leergefegt worden. Sämtliche Fenster waren aufgerissen, der heiße und salzige Wind vom Pazifik wehte durch das Gebäude. Jaffe navigierte durch die Trümmer bis zu Fletchers Lieblingszimmer, die Zelle, die er einmal - high von Meskalin - den Stöpsel des Lochs in seinem Herzen genannt hatte.
    Dort saß er, lebend, auf dem Stuhl vor dem aufgerissenen Fenster und sah zur Sonne empor; genau das, was ihn auf dem rechten Auge blind gemacht hatte. Er trug dasselbe schäbige Hemd und die zerschlissenen Hosen wie immer; sein Gesicht zeigte dasselbe verkniffene unrasierte Profil; der
    Pferdeschwanz ergrauenden Haares - sein einziges
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    Zugeständnis an die Eitelkeit - war an Ort und Stelle. Selbst seine Haltung - Hände im Schoß, der Oberkörper eingesunken -
    hatte Jaffe schon zahllose Male gesehen. Und dennoch stimmte etwas an der Idylle nicht, und das reichte aus, daß Jaffe unter der Tür stehenblieb und sich weigerte, die Zelle selbst zu betreten. Es war, als wäre Fletcher zu sehr er selbst. Sein Erscheinungsbild war zu perfekt: der Versonnene, der den Himmel betrachtete; jede Pore und jede Falte verlangte die Aufmerksamkeit von Jaffes schmerzender Netzhaut, als wäre sein Porträt von tausend Miniaturmalern gemalt worden, und jeder hatte einen Zentimeter des Modells übernehmen dürfen, den sie alle mit einem aus nur einer einzigen Borste
    bestehenden Pinsel in übelkeiterregenden Einzelheiten ausgeführt hatten. Der Rest des Zimmers - Wände, Fenster, selbst der Stuhl, auf dem Fletcher saß - verschwammen, weil sie nicht mit der allzu gründlichen Realität dieses Mannes kon-kurrieren konnten.
    Jaffe machte die Augen zu, damit er das Porträt nicht ansehen mußte. Es überlastete seine Sinne. Machte ihn schwindlig.
    Er hörte Fletchers Stimme in der Dunkelheit, so unmelodisch wie immer.
    »Schlechte Nachrichten«, sagte er sehr leise.
    »Warum?« sagte Jaffe, ohne die Augen aufzumachen. Aber auch so wußte er ganz genau, daß das Wunderkind zu ihm sprach, ohne Zunge oder Lippen zu benützen.
    »Gehen Sie bitte«, sagte Fletcher. »Und die Antwort lautet: ja.«
    »Die Antwort worauf?«
    »Sie haben recht. Ich brauche meinen Hals nicht mehr.«
    »Ich habe nicht gesagt...«
    »Das ist auch nicht mehr nötig, Jaffe. Ich bin in Ihrem Kopf.
    Dort ist alles, Jaffe. Schlimmer, als ich gedacht habe. Sie müssen gehen...«
    Die Lautstärke ließ nach, aber die Worte blieben. Jaffe ver-56
    suchte, sie zu verstehen, aber die meisten entgingen ihm. Etwas wie werden wir zu Himmel. Oder nicht? Ja, das hatte er gesagt.
    »... werden wir zu Himmel?«
    »Wovon reden Sie?« sagte Jaffe.
    »Machen Sie die Augen auf«, antwortete Fletcher.
    »Es macht mich krank, Sie anzusehen.«
    »Das beruht auf Gegenseitigkeit. Aber trotzdem... Sie sollten die Augen aufmachen. Sehen, wie das Wunder funktioniert.«
    »Welches Wunder?«
    »Sehen Sie.«
    Er gehorchte Fletchers Drängen. Die Szene war noch genauso, wie sie gewesen war, bevor er die Augen zugemacht hatte. Das offene Fenster; der Mann, der davor saß. Genau dasselbe.
    »Der Nuncio ist in mir«, verkündete Fletcher in Jaffes Kopf.
    Er bewegte das Gesicht überhaupt nicht. Kein Zucken der Lippen. Kein Blinzeln der Wimpern. Immer nur dieselbe schreckliche Vollendung.
    »Sie meinen, Sie haben ihn an sich selbst erprobt?« sagte Jaffe. »Nach allem, was Sie mir gesagt haben?«
    »Er verändert alles, Jaffe. Er ist die Peitsche auf dem Rücken der Welt.«
    »Sie haben ihn genommen! Ich hätte ihn bekommen sollen!«
    »Ich habe ihn nicht genommen. Er hat mich genommen. Er hat ein Eigenleben, Jaffe. Ich wollte ihn vernichten, aber das hat er nicht zugelassen.«
    »Warum wollten Sie ihn überhaupt vernichten? Er ist die Große Arbeit.«
    »Weil er nicht so funktioniert, wie ich mir das gedacht habe.
    Er interessiert sich nicht für das Fleisch, Jaffe, es sei denn als Fußnote. Er spielt mit dem Verstand. Er nimmt Gedanken als Inspiration und Triebkraft. Er macht uns zu dem, was wir gerne wären oder wovor wir Angst haben. Oder zu beidem.
    Wahrscheinlich zu beidem.«
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    »Sie haben sich nicht verändert«, stellte Jaffe fest. »Sie hören sich immer noch gleich an.«
    »Aber ich spreche in Ihrem Kopf«, erinnerte Fletcher ihn.
    »Habe ich das vorher je getan?«
    »Also liegt Telepathie in der Zukunft

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